© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 39/22 / 23. September 2022

Der Kitt wird spröde
Der Philosoph Otfried Höffe stellt die Frage, was unsere Gesellschaft noch zusammenhält
Claus-Peter Becke

Politiker der Regierungskoalition bewegt eine grundlegende Frage, die nämlich nach dem Stoff, der unsere Gesellschaft zusammenhält. Daß diese Frage immer häufiger gestellt wird, ist ein Indiz dafür, daß sich ein gesellschaftliches Problem zu entwickeln beginnt, das offensichtlich vergeblich einer Lösung harrt, obwohl Bundesinnenministerin Nancy Faeser im Sport die Zusammenhalt gewährende Kraft wahrnimmt (ZDF-Interview vom 23. Juli 2022) und Bundesarbeitsminister Hubertus Heil nur in einer spürbaren Erhöhung von Transferleistungen für einkommensschwache Bevölkerungsteile den Kitt sieht, der „unsere Gesellschaft in schwierigen Zeiten zusammenhalten“ kann, was zuletzt der Vorstoß zum neuen „Bürgergeld“ dokumentierte. Der Tübinger Emeritus Otfried Höffe, versucht der Frage „Was hält unsere Gesellschaft noch zusammen?“ in seinem gleichnamigen, von der Heidelberger Akademie der Wissenschaften herausgegebenen Essay etwas substantieller auf den Grund zu gehen. 

Wichtig sind Familie, gemeinsame Sprache, Sitte, Recht und Religion

In seinem Titel springt das Temporaladverb „noch“ ins Auge. Wenn gefragt wird, ob es etwas gibt, das unsere Gesellschaft noch zusammenhält, ist das ein alarmierendes Signal, weil mit der Verwendung dieses Adverbs der Eindruck erweckt wird, als sei ein Erosionsprozeß schon weit fortgeschritten, der endlich der Eindämmung bedürfe. Trifft das die Ansicht Höffes? Ist er davon überzeugt, daß der Zusammenhalt innerhalb unserer Gesellschaft bereits weitgehend erodiert ist? Folgt man seinem Gedankengang bis zu den zehn als Fazit seiner Überlegungen zum Abschluß des Essays vorgetragenen Thesen, muß die Frage verneint werden. Doch der Reihe nach. 

Zunächst beginnt Höffe damit, die grundlegenden Bausteine, die politische Gemeinschaften stützen, wie Familie, gemeinsame Sprache, Sitte, Recht und Religion aufzureihen; diese sieht er als die primären Bindekräfte innerhalb solcher Gesellschaften, die er vormodern nennt. Anschließend werden die Elemente beschrieben, die als Kennzeichen moderner Gesellschaften gelten. Zu diesen gehören Säkularisierung, Aufklärung, Fortschrittsglaube und all die Kräfte, die den Fortschritt, und damit den Wohlstand, in pluralistischen kapitalistischen Gesellschaften einer globalisierten Welt zu fördern versprechen.

Den Kern der Kräfte, die Zusammenhalt sichern, sieht Höffe jedoch über „materiellen Wohlstand“ hinaus, in „sozialem und kulturellem Reichtum“, der der Gesellschaft „ihren tieferen Zusammenhalt“ sichert, „durch ihre Sprache“ vor allem. Der wohl entscheidende von Höffe mehrfach hervorgehobene Baustein allerdings besteht in dem, was er Gemeinsinn der Bürger beziehungsweise „gelebte Staatsbürgerfreundschaft (civic friendship)“ nennt.

In dieser Haltung sieht Höffe eine Kraft, die in ihren Ausprägungen als „Solidarität und Fürsorge“ Zusammenhalt gewährleistet. Zu ihr gehören freiwillige Handlungen, die über das rechtlich Gebotene hinausgehen. Ehrenamtliche Tätigkeiten in Kirchen, Sportvereinen und vielen kulturellen und sozialen Eirichtungen zählen dazu. Wenn nun gerade in solchen auf Freiwilligkeit beruhenden Leistungen das Entscheidende dessen liegt, was Zusammenhalt gewährleistet, zeichnet sich ein tiefgreifender Dissens zwischen dem ab, was Hubertus Heil als das Zusammenhalt Stiftende wahrnimmt, und dem, worauf es Höffe ankommt. 

Die von Heil geforderte Erhöhung der Transferleistungen wird aus Steuermitteln finanziert, das heißt aus Abgaben der Bürger, die zwangsweise erhoben werden. Während also der SPD-Politiker in der Umverteilung zwangsweise eingezogener Steuergelder das Allheilmittel dafür sieht, in der Gesellschaft Zusammenhalt zu gewährleisten, betrachtet der politische Philosoph einen breit gefächerten Kanon von Instrumenten, deren Zusammenspiel er als notwendige Bedingung der Überlebensfähigkeit unserer Gesellschaft erkennt.

Gesellschaftlicher Zerfall könnte in einen Bürgerkrieg münden

Liefern Höffes Ausführungen so auf der einen Seite nun zwar eine Reihe klärender Überlegungen, bleiben andererseits dringliche Fragen, die er unbeantwortet läßt. Zum einen besteht ein Kernproblem des Essays darin, daß Höffe in seinen Ausführungen keine Kriterien formuliert, die eine nachprüfbare Entscheidung darüber zulassen, in welchem Zustand eine Gesellschaft im konkreten Einzelfall noch über genügend inneren Zusammenhalt verfügt oder ab wann sie im Begriff ist auseinanderzubrechen. So bleiben nur Mutmaßungen. Ein offensichtliches Auseinanderbrechen könnte in einen offen ausgetragenen Bürgerkrieg münden. Glücklicherweise ist die Bundesrepublik Deutschland derzeit von einem derartigen gewalttätigen Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung noch weit entfernt. 

Unterhalb dieser Schwelle aber sind viele unterschiedlich weit reichende Verfallsformen der öffentlichen Ordnung denkbar. Nun würde Höffe wohl mit dem Hinweis auf die zehn von ihm aufgestellten Thesen erwidern, daß ein entsprechender Verfall derzeit nicht erkennbar sei. Er glaubt sogar, Gegenkräfte zu erkennen. Allerdings wird er sicherlich auch zugestehen, dass letztlich nur empirisch gestützte Untersuchungen klären können, von welchem Zeitpunkt an Gemeinsinn in einem Umfang erodiert ist, daß die Gesellschaft auseinanderzubrechen droht. Die Indizien, die dem Beobachter des öffentlichen Lebens in Stadt und Land vor Augen stehen, zeigen, daß die Erosionsprozesse zumindest in bundesdeutschen Großstädten, in denen die multikulturelle Realität nicht mehr auf „gemeinsame Sprache, Sitte, Recht und Religion“ fußt und – noch – „materieller Wohlstand“ die wesentliche Klammer darstellt, weit fortgeschritten sind.

Otfried Höffe: Was hält die Gesellschaft noch zusammen? Kröner Verlag, Stuttgart 2021, gebunden, 120 Seiten, 19,90 Euro

Foto: Freiwillige Feuerwehrleute nach Waldbrandeinsatz im Nationalpark Sächsische Schweiz 2022: „Bürgergeld“ schafft keinen Zusammenhalt