© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 39/22 / 23. September 2022

Gründlich die Klasse verraten
Erinnerungen an den linken Theoretiker Hans-Jürgen Krahl
Werner Olles

Hans-Jürgen Krahl war der Theoretiker der antiautoritären Bewegung zwischen 1967 und 1969. Im Gegensatz zu Rudi Dutschke hatte er kaum etwas von dessen agitatorischer Massenwirkung und düsterem Charisma. Krahl, 1943 in Sarstedt, der tiefsten Provinz Niedersachsens geboren, stammte aus einfachen Verhältnissen, was ihn nicht daran hinderte, sich als Nachfahre des Friedrich von Hardenberg (Novalis) zu stilisieren. 

Seine „Odyssee durch die verschiedensten Organisationsformen der herrschenden Klasse“ hat er in den „Angaben zur Person“ beschrieben, die er 1969 vor dem Frankfurter Landgericht im „Senghor-Prozeß“ in freier Rede vortrug. Noch als Jugendlicher trat er dem Ludendorff-Bund bei, als ehemaliger Schulkamerad des gleichaltrigen NPD-Kaders Hans-Michael Fiedler gründete er gemeinsam mit diesem die Zeitschrift Missus und wurde ihr erster „Hauptschriftleiter“. Seinen Eintritt in die Junge Union bezeichnete er als ersten Schritt hin zur Aufklärung, zuvor wurde er aber noch während seines Studiums in Göttingen Mitglied der schlagenden Verbindung „Verdensia“. Hier begann seine Konversion, als er eines Tages einen Bundesbruder über „die ewige Unmündigkeit der Arbeiterklasse“ schwadronieren hörte. Krahl ging nach Frankfurt, um bei Adorno zu studieren. Nach eigenen Angaben beschloß er, „die herrschende Klasse nun gründlich zu verraten“ und trat 1964 in den Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) ein. 

Seine Arbeit an einer eigenständigen Weiterentwicklung der „Kritischen Theorie“, die über Adorno und Horkheimer hinausging – und die uns vor allem einen Jürgen Habermas erspart hätte –, nötigt bis heute auch all jenen Respekt ab, die das Modell antiautoritärer Emanzipation nicht nachvollziehen können. Trotz seines tragischen Todes mit nur 27 Jahren hinterließ er ein faszinierendes Lebenswerk, und die Erinnerung an Hans-Jürgen Krahl als den wohl klügsten Theoretiker der Bewegung läßt erahnen, daß die Lebensjahre eines Revolutionärs letztlich Hundejahren ähneln und ein Vielfaches an menschlicher Lebenszeit betragen. Sein Tod bei einem Verkehrsunfall auf einer vereisten oberhessischen Landstraße im Februar 1970 zerstörte ein Leben, das bereits zu diesem Zeitpunkt ein hohes Maß an Intensität erreicht hatte. In dieser Tragik liegt jedoch auch die ungebrochene Faszination dieses ungewöhnlichen Theoretikers der antiautoritären Revolte.

Nicht verhehlen wollen wir, daß Krahl das Gendern im Buch als unsinnig empfunden und in seiner intellektuellen Redlichkeit, seinem persönlichen Mut und seiner Weitsicht andere und bessere Apologeten verdient hätte.

Meike Gerber, Emanuel Kapfinger, Julian Volz: Für Hans-Jürgen Krahl – Beiträge zu seinem antiautoritären Marxismus. Mandelbaum Verlag, Wien 2022,gebunden, 301 Seiten, 18 Euro