© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 39/22 / 23. September 2022

Es geht ans Eingemachte
Die Gläserfront im Keller wächst: Auch junge Leute wecken wieder ein
Bernd Rademacher

In Omas Keller waren die Regale voller Einmachgläser: Stachelbeeren, Quitten, Holunderbeeren – wäre der Kalte Krieg der Supermächte damals zum heißen Konflikt geworden, hätte Oma dort jahrelang aushalten können. Heute sind Omas große Gläser wieder hip und das nicht erst seitdem „der Russe“ wieder eine Bedrohung ist. „Einwecken“ ist in Zeiten von drohenden Blackouts, Stadtflucht, Inflation und hohen Preisen im Supermarkt angesagt, und zwar nicht nur unter fusseligen Bio-Fuzzys, sondern bei urbanen Jack-Wolfskin-Hipsters und konservativen Selbstversorgern. Jetzt ist Erntezeit, und nicht nur die Fridays-for-Future-Generation holt die Früchte ihres Urban-Gardens heim. Neben klassischen Konfitüren kommen auch szenige Chutneys und Relishs ins Einweckglas. 

Apropos: 1895 meldete der hessische Unternehmer Johann Carl Weck die luftdichte Lagerung von Lebensmitteln mittels spezieller Gläser mit Gummidichtung und Verschlußbügel zum Patent an. Das „Einwecken“ war erfunden. Doch kein Ertrag ohne Investment: Neben Gläsern und Gummiringen sind weitere Hilfsmittel nötig, wie Küchenwaage, Trichter und Obstentkerner. Ein Julienne-Reißer (oder Zestenreißer) erleichtert das Hobeln von hauchdünnen Orangen- oder Zitronenschalenstreifen. Eine Saucenpresse „Flotte Lotte“ macht das Pürieren einfach.

Reaktion auf Krisen und Preisexplosionen

Dann ist Hygiene oberstes Gebot. Alle Utensilien werden gespült und mit kochendem Wasser übergossen. Die Gläser warten kopfüber auf einem sauberen Tuch auf ihren Gebrauch. Doch zuvor müssen sie noch sterilisiert werden. Das geht im Backofen (20 Minuten bei 130 Grad) oder in der Spülmaschine – ohne Spültab. Achtung: Niemals heiße Früchte in ein kaltes Glas füllen: Sonst peng, klirr, spritz!

Dann steht dem Experimentieren mit der günstigen Vielfalt aus Garten, Wald und Flur nichts mehr im Wege. Ein Espresso-Gelee mit Zitronensaft (und optional Amaretto) macht morgens munter. Der ideale Begleiter für den Herbst ist ein Bratapfelkompott aus Äpfeln, Rosinen, Marzipan, Mandeln, Vanille, Zimt und einem Schuß Rum. Im dunklen Vorratsschrank hält sich diese Köstlichkeit über ein halbes Jahr. Wer’s herzhaft liebt, versucht sich an einer karamellisierten Zwiebel-Marmelade mit Honig und Balsamico.

Kleine Unternehmen springen auf den Zug auf

Nicht nur Obst, auch Gemüse gehört ins Glas. Ein würziges Chutney läßt sich süß-säuerlich bis pikant-scharf variieren. Obwohl – ist diese Anleihe aus der indischen Küche überhaupt noch erlaubt, wegen „kultureller Aneignung“ und so? Ach egal, das Grundrezept ist stets dasselbe: Das Gemüse der Wahl wird mit Zwiebeln und Knoblauch in Öl angeschwitzt, gewürzt und eingeköchelt. Zucker und Essig sorgen für Haltbarkeit. Gurken passen ebenfalls gut ins Einweckglas, ob als Relish für Burger und Hot Dogs oder als klassisch-knackige Essiggurken. Auch Soleier in Salzlake wie früher in der Eckkneipe halten sich bis zu einem Monat.

Auch die auf der verregneten Insel so beliebten Mixed Pickles sind im Handumdrehen selbst gezaubert. Die süßsauer-scharf eingelegten Gemüsestückchen bereichern viele Gerichte oder eignen sich zu Weißbrot als Snack. Der Geschmack wird mit der Zeit im Glas intensiver. Und Achtung: Da die Mixtur noch nachgärt, die Gläserdeckel in den ersten Tagen nicht zu fest verschrauben.

Doch Einwecken ist mehr als Handwerk für Hausfrauen, nämlich auch ein Businesskonzept für Mikro-Unternehmen. Manufakturen für Eingemachtes zwischen Küste und Alpen bieten ihre Spezialitäten online an, zum Beispiel „Meingemachtes“, „Mamas Picnic“ oder „eingeweckt.de“. Auch Feinkostläden und sogar Edelrestaurants bieten in coronageprägten Zeiten des Selbstabholens ihre Speisen und Zutaten in Weck-Gläsern an.

Das Verfahren eignet sich übrigens auch hervorragend für Nudelsoßen, und wer aus der Lockdownzeit noch etliche Packungen Spaghetti gebunkert hat, kann sich nun auch das passende Topping herstellen und für den Blackout-Winter aufbewahren. Außerdem sollte man jetzt schon an Weihnachten denken: Ein Glas leckeres Eingemachtes, stilecht mit kariertem Tuch über dem Deckel und ansprechend gestaltetem Etikett, ist ein ebenso individuelles wie nützliches Geschenk. Und „nachhaltig“ sowieso.