© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 39/22 / 23. September 2022

Der Flaneur
Gegen den Wind
Paul Leonhard

Die Regatta hat wohl bereits kurz nach Sonnenaufgang begonnen. Als ich erscheine, führt ein Segelboot mit weißem Rumpf und rotblauen Segeln. Aber die Verfolger – zwei blütenweiße Segler – sind dichtauf. Einer schafft es sogar an der Boje, den bisherigen Spitzenreiter zu schneiden und die Führung zu übernehmen. 

Dicht zischt das Tuch über die Wellen, fast droht das Boot umzukippen. Aber dann richtet es sich stolz auf und fährt so schnell es der Wind zuläßt auf die nächste Boje zu. Der Kapitän zieht sich zufrieden die Mütze auf den Hinterkopf und lehnt sich entspannt zurück.

Vier Kapitäne sitzen auf Klapphockern und doch wie Feldherren auf einem Kieshügel. Die Füße stecken in Gummistiefeln. In den Händen halten sie Fernsteuerungen. Neben ihnen stehen offene Koffer mit bereitliegendem Werkzeug. Ein Windsack in den deutschen Nationalfarben zeigt, woher die leichte Brise kommt, die das Spielzeug vorantreibt.

Der Kapitän ignoriert die Kommentare seiner Kollegen und zückt einen Schrauberzieher.

Ein fünfter steht brubbelnd am Ufer und hält etwas ratlos seinen Segler in der Hand. Die Kommentare seiner Freunde ignoriert er einfach. Er setzt das Boot behutsam auf den Kies, zieht einen Schraubenzieher aus der Tasche und beginnt etwas zu reparieren. Dann ziehen die Schiffseigner plötzlich synchron die Köpfe ein: Ein halbes Dutzend Wildgänse zieht laut schimpfend über sie hinweg. Aufgescheucht wurden diese wiederum von einem Schwanenpaar, das deutlich gemacht hat, wer der Besitzer der kleinen Sandbank zehn Meter vom Ufer entfernt ist.

Nach diesem Erfolg können sich auch stolze Schwäne füttern lassen. Die Nahrungsquelle ist eine dicke Frau, die sich direkt am Ufer in einen mitgebrachten Klappstuhl gezwängt hat und sich darüber freut, daß die weißen Vögel abwechselnd nach ihrem Kleid und nach ihrer Hand schnappen. In einem Leinenbeutelchen hat sie offenbar Brotreste oder andere aus Schwanensicht interessante Leckereien.

Ich drehe eine Runde um den See, setze mich irgendwo ins Schilf und lese. Als ich nach zwei Stunden zurückkomme, erinnert nichts mehr an die Segelbootregatta und die Schwan-Fütterin. Weit draußen schwimmen die Schwäne. Auch am See hat jegliches seine Zeit.