© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 40/22 / 30. September 2022

Die Lebensader abschneiden
Drohender Wirtschaftskollaps: Eine Industrienation zerstört sich selbst – mit fatalen Folgen für den Einzelnen
Holger Douglas

Was Deutschland droht, hat Detroit bereits hinter sich. Einst galt die blühende Stadt im US-Bundesstaat Michigan aufgrund der großen Autohersteller als „Motor City“. Kaum eine andere Stadt erlebte jedoch nach dem Niedergang ihrer Autoindustrie eine solch starke Deindustrialisierung. Der Abstieg der Metropole führt uns vor Augen, was der Begriff tatsächlich bedeutet. Hunderttausende Arbeitslose, geschlossene Geschäfte, leerstehende Häuser – wer konnte, verließ die Stadt. Kriminalität, Brandstiftung und eine korrupte Verwaltung taten ein übriges, um Detroit zur Geisterstadt werden zu lassen.

Auch hierzulande werden erste Industriegebiete zu Geisterstädten. Heute stehen riesige Fabrikanlagen leer in Deutz bei Köln wie in vielen anderen Städten des Ruhrgebietes, zerfallen die Backsteinmauern der Industriebauten, pfeift der Wind durch eingeworfene Fenster. Ein ähnliches Bild bietet sich auch in anderen Regionen Deutschlands. 

Nein, es ist kein wirtschaftliches Versagen wie in Detroit, es ist auch kein äußerer Feind, der vor den Landesgrenzen steht und die Energieversorgung zerstört. Der Feind steht im eigenen Lande und vernichtet mit voller Absicht die Infrastruktur. Eine Phalanx aus NGOs, Grünen, SPD und CDU schaltet mit lautem Beifall ein funktionierendes Kraftwerk nach dem anderen ab, eins in Hamburg-Moorburg ist gerade erst fünf Jahre alt gewesen. Milliardenwerte werden vernichtet und die gesicherte Stromversorgung ausgemerzt. 

Gleichzeitig versucht eine Ampelkoalition verzweifelt, die dadurch entstehenden gigantischen Kosten vor dem Wahlvolk zu verstecken. Mal soll das Täuschungsmanöver Gasumlage heißen, dann wieder nicht, nachdem die dramatischen Beträge für die Haushalte klar wurden. Beliebt ist zur Zeit ein Gaspreisdeckel, wobei offen ist, wer die Luft zwischen Deckel und Realität bezahlen soll.

Stromleitungen aber sind die Lebensadern einer modernen Industriegesellschaft. Das hat dramatische Folgen, die langsam spürbarer werden. Über Blackouts wird mittlerweile so geredet wie über die Ausgestaltung des kommenden Urlaubs. Eine Regierende Bürgermeisterin in Berlin wagt zu behaupten, Stromausfälle seien vertretbar – für ein Industrieland eine Katastrophe. 

Die Autoindustrie verlagert bereits ihre Produktion ins Ausland. Schleichend, still und heimlich. Volkswagen prüft laut Bloomberg Möglichkeiten einer Erdgasknappheit entgegenzuwirken. Dazu gehört auch die Verlagerung innerhalb des weltweiten Werksnetzes. Das Unternehmen verfügt über große Fabriken in Deutschland, der Tschechischen Republik und der Slowakei. Eine weitere Option ist die Produktion in China. „Als mittelfristige Alternativen konzentrieren wir uns auf die Verlagerung von Produktionskapazitäten“, ähnlich wie dies bei „Halbleiterknappheit“ und „anderen jüngsten Störungen der Lieferkette“ bereits „gängige Praxis“ sei, lautet die nüchterne Erkenntnis von Geng Wu, Leiter der Volkswagen-Abteilung Beschaffung. 

Der Mittelstand kann kaum verlagern. Er muß schließen, wenn Strom und Gas die Produktion zu teuer machen. Das trifft mittlerweile fast alle Betriebe, die viel Energie benötigen: Hüttenwerke, Gießereien, Papierfabriken. Ein übriges tragen jene unseligen CO2-Preise bei, die beständig steigen. Sie bereiteten vor einem Jahr bereits dem alteingesessenen Papierhersteller Zanders das Aus. Ausgerechnet am Tag der Arbeit, am 1. Mai 2021, war für das Unternehmen Schluß. Es sollte sieben Millionen Euro für jene grotesken CO2-Steuern bezahlen, ansonsten hätte ein Bußgeld in Höhe von drei Millionen Euro gedroht. Grund genug für den skandinavischen Investor, dichtzumachen. 

Weitere Folge knapper und teurer Energie: der Kollaps der Versorgung mit Lebensmitteln. Die wird bisher wesentlich durch mittelständische Betriebe und das Handwerk geleistet. Doch Metzger und vor allem Bäcker können die hohen Energiekosten nicht mehr bezahlen; ein Bäcker kann nicht mit halber Wärme seine Brötchen backen. Notwendige Preissteigerungen kann das Handwerk nicht mehr an seine Kunden weitergeben. Eine Insolvenzwelle ungeheuren Ausmaßes kündigt sich an.

Dieser Prozeß geht schleichend vonstatten. Erst verschwindet der Bäcker an der Ecke, dann läßt der Metzger seinen Rolladen für immer herunter, es macht der kleine Betrieb dicht, der all die Jahre Kunststoffteile geliefert hat. In ganzen Straßenzügen sammeln sich Blätter, Papiere und Unrat, die der Wind in die Ecken treibt. Es ist niemand mehr da, der saubermacht. Detroit ist überall. 

Noch sind die Schreckensszenarien für viele Bürger vermeintlich weit weg – außer für die betroffenen Betriebsangehörigen. Doch Haushalte werden bereits jetzt durch unmäßig gestiegene Strom- und Gaspreise so geschröpft, daß am Monatsende nichts mehr übrigbleibt. Nicht einmal mehr die kaputte Waschmaschine kann ersetzt werden. Sparkassenverbände rechnen damit, daß bald 60 Prozent der Haushalte gerade noch die Lebenshaltungskosten bezahlen können. Diejenigen, die vom Sozialamt leben, haben mit höheren Öl- oder Gaspreisen hingegen wenig Probleme: Das Amt zahlt. Also letztlich der, der noch arbeitet. Das führt dazu, daß der Arbeitende selbst in Bedrängnis gerät, weil er aus eigener Arbeitskraft nicht mehr die ins Wahnwitzige gestiegenen Preise bezahlen kann und womöglich frierend in seiner Wohnung sitzt.

Unterdessen sind die Erzeugerpreise landwirtschaftlicher Produkte bereits im April so stark gestiegen wie noch nie seit Beginn der Erhebung im Jahr 1961. Laut Statistischem Bundesamt lagen sie um 39,9 Prozent höher als im April 2021 Ganz zur Freude einiger Politiker: Die „Zeit billiger Lebensmittel“ sei vorbei, verkündete jüngst die ehemalige Landwirtschaftsministerin Renate Künast (Grüne). Aufgrund des Klimawandels sei eine Transformation notwendig. Kein Fleisch, sondern Hülsenfrüchte stehen also künftig auf dem Speiseplan.

Deindustrialisierung – das ist eben nicht nur einmal eine kurze Stromunterbrechung, teurer Sprit und hohe Gaspreise. Das ist der Rückfall in die Steinzeit. Nachts soll die Straßenbeleuchtung ausgeschaltet werden, schlagen erste klamme Städte und Gemeinden vor. Doch erst durch das Fehlen des Lichts merkt man, was eine Beleuchtung ausmacht. Auch in Detroit waren bis zu 40 Prozent der 88.000 Straßenleuchten defekt. Es war so dunkel, daß die Stadt ein Erneuerungsprogramm beschloß, um der Kriminalität Herr zu werden. Für 185 Millionen Dollar wurde schließlich die Straßenbeleuchtung saniert. Es ist schwer und teuer, eine Industriestadt auch nach einer Krise wieder zu beleben und neu aufzubauen. Um wieviel schwieriger fällt dies wohl bei einem mutwillig abgewürgten Industrieland wie Deutschland?