© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 40/22 / 30. September 2022

Die etablierten Radikalen
Grüne in Niedersachsen: Beobachtungen aus dem Wahlkampf einer künftigen Regierungspartei
Hinrich Rohbohm

Sie sind die Königsmacher bei dieser Landtagswahl. Wenn Niedersachsen am 9. Oktober ein neues Parlament wählt, wird der Weg zur Regierungsbildung kaum an den Grünen vorbeigehen. Zehn Tage vor dem Urnengang sehen die Demoskopen die SPD bei 32 Prozent und damit entgegen dem Bundestrend deutlich vor der CDU. Die kommt bei Infratest Dimap auf 28 Prozent. Beide Parteien werden einen Partner brauchen. Da sie ihre derzeit noch regierende große Koalition nicht fortsetzen wollen, die Liberalen bei Werten von fünf Protent schwächeln und um den Wiedereinzug in den Landtag bangen müssen, kommen nur die Grünen in Frage. Die liegen zwischen Harz und Nordsee in den Umfragen derzeit bei 17 Prozent trotz jüngster Negativ-Schlagzeilen in Berlin. 

Besonders die CDU-Führung war schon im Vorfeld des Wahlkampfes bemüht, sich für die potentielle grüne Braut schick zu machen. Es war Spitzenkandidat Bernd Althusmann, der sich bereits im Juni auf Bundesebene für die Einführung einer Frauenquote in der CDU stark machte. Ihre Landesliste besetzte die Partei paritätisch, jeder zweite Listenplatz wurde für eine Frau freigehalten. Die intern umstrittene Strategie: Schon vor dem Wahlkampf die Waffen strecken, den Grünen jedes erdenkliche politische Zugeständnis machen. Und darauf hoffen, irgendwie am Ende doch noch knapp vor der SPD zu landen, um sich für die Aufnahme von Koalitionsgesprächen zu legitimieren.

Doch selbst das dürfte nichts nützen, denn die Grünen scheinen trotz aller schwarzer Verbeugungen nicht mitzuspielen. Schließlich zählt ihr niedersächsischer Landesverband zu den linkesten innerhalb der Partei. Die Anti-Atombewegung, die „Freie Republik Wendland“, die Kämpfe gegen das Endlager Gorleben ... All das zählt zur radikalen DNS dieses Verbandes, der nun verdauen muß, daß ihr Wirtschaftsminister Robert Habeck Kernkraftwerke länger laufen lassen will und sich vor dem Emir von Katar verbeugte, ausgerechnet um fossile Energie zu beschaffen. Für einen Grünen schwer zu verdauen. Erst recht in Niedersachsen.

Wie tickt dieser Landesverband? Würde er sich einer Koalition gegenüber der CDU öffnen? Oder werden die Radikalen in der Landespartei weiter den Ton angeben? Die JUNGE FREIHEIT hat sich bei ihnen umgehört. In der Lüneburger Provinz. In der Landeshauptstadt Hannover. Und in Göttingen, einer Hochburg linksgrüner „Aktivisten.“

In der Universitätsstadt hatte sich zum Wochenende prominenter Besuch angekündigt. Grünen-Bundesvorsitzende Ricarda Lang ist als Rednerin zum berühmten Gänseliesel auf den Göttinger Marktplatz gekommen. Mit dabei: Jürgen Trittin, einst Ikone des linksradikalen Flügels. Das einstige Mitglied des Kommunistischen Bundes hat hier seinen Bundestagswahlkreis. Auch die Spitzenkandidatin zur Landtagswahl, Julia Willie Hamburg, ist gekommen, flankiert von der örtlichen Landtagskandidatin Marie Kollenrott. Noch vor vier Jahren hatte sich Kollenrott mit ihrem Stadtverband für die von Strafverfahren bedrohten Hausbesetzer eines Göttinger Wohnheims stark gemacht, das von der Polizei geräumt worden war.

Am Brunnen mit dem Gänseliesel, der „meistgeküßten Jungfrau“, die nach altem Brauch von jedem frischgebackenen Doktor geherzt werden muß, macht Kollenrott jedoch ganz neue Erfahrungen. Trillerpfeifen übertönen die Rede der Kandidatin. Einige halten Schilder mit Parolen hoch, die wie Stiche ins grüne Herz wirken müssen: „Atomkraft, ja bitte!“ steht auf einem. Auf einem anderen; „Nehmt eure Waschlappen und geht!“, in Anspielung auf eine vom grünen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann empfohlene Dusch-Alternative. „Keinen Berufsabschluß in der Tasche, aber uns Steuerzahlern erzählen wollen, wie wir zu leben haben. Pfui!“, heißt es auf dem Zettel einer weiteren Demonstrantin.

„Kriegstreiber“, schreit eine andere Frau, die vom Auftreten und ihrem Erscheinungsbild her gut zu den Grünen der achtziger Jahre passen würde. Sie hat sich ein Pappschild umgehängt. „Grüne=Kriegstreiber – Frieden schaffen ohne Waffen“ steht da. Sprüche, die eigentlich aus dem Repertoire der Öko-Partei stammen könnten.

„Mal sehen, wie weit die CDU auf uns zugehen wird“

Die Pappschild-Frau läuft vor der aufgebauten Bühne hin und her. Die Grünen-Ordner sind genervt, wollen die Protestlerin abdrängen, versperren ihr den Weg. „Fassen Sie mich nicht an, sonst rufe ich die Polizei“, schreit sie einen der verzweifelten Ordner an, der später Journalisten darum bitten wird, auf keinen Fall mit der Frau auf einem Foto veröffentlicht zu werden. In den hinteren Reihen halten sich mit säuerlicher Miene einige Grünen-Anhängerinnen im Oma-Alter aufgrund der starken Trillerpfeifen-Geräusche die Ohren zu, während „Haut ab“-Rufe in Richtung Grünen-Podium ertönen.

Direkt vor den Störern in einem Grünen-Liegestuhl mit Sonnenblumen-Emblem süffisant lächelnd sitzt: Jürgen Trittin. Betont entspannt hat er sein linkes Bein auf das rechte Knie gelegt, den Blick ein wenig arrogant von der Menge abgewandt. So als fühle er sich von dem Protest nicht angesprochen. In seiner Rede bedient der Altgrüne die linke Seele der Partei. Natürlich sei man weiter gegen die Kernkraft, für den Klimaschutz, gegen Rechts. Aber eben auch gegen das Putin-Regime und für Waffenlieferungen, um den Krieg schnell zu beenden. Trittin hatte ab 1998 der rot-grünen Koalitionsregierung von Gerhard Schröder (SPD)angehört. Deren Beteiligung am bewaffneten Einsatz der Bundeswehr im Kosovo hatte die Grünen seinerzeit vor eine innere Zerreißprobe gestellt.

„Demokratie heißt der Austausch und nicht das Niederbrüllen von Meinungen“, kämpft später deren aktuelle Bundesvorsitzende Ricarda Lang gegen jenen Störer-Ungeist, den ihre Partei einst selbst salonfähig gemacht hatte. Die meisten lautstarken Gegendemonstranten kommen jedoch nicht aus den Reihen enttäuschter Grünen-Wähler. Überwiegend sind es sogenannte Querdenker, die sich unter das Publikum gemischt haben. Doch auch innerhalb des grünen Milieus steigt der Unmut. In den radikalen Vorfeldorganisationen der Klima-

bewegung werden zunehmend Sprechchöre und Transparente gegen die Partei hör- und sichtbar.

Parteiintern bleibt es allerdings auffällig leise. Noch. „Momentan ist es ja so, daß wir Wahlen gewinnen und auch in den Umfragen gut dastehen“, meint ein junger Wahlkämpfer am Infostand der Partei in Hannover. „Sollte sich das ändern, dann kracht es richtig“, orakelt er. An eine Koalition mit der CDU nach der Landtagswahl glaubt er nicht. „Die Präferenz bei uns liegt eindeutig auf der SPD.“

Auch in Lüneburg sind die Grünen-Wahlkämpfer diesbezüglich skeptisch. „Althusmann weiß, daß er nur durch uns MP werden kann. Deshalb zieht er eine progressive Show ab. Aber davon werden wir uns nicht blenden lassen“, kündigt ein Mann um die 60 am Lüneburger Infostand an. Die etwa gleichaltrige Frau neben ihm gibt sich pragmatischer. „Falls wir unsere Ziele mit der CDU besser durchsetzen könnten, warum nicht? Mal sehen, wie weit sie auf uns zugehen wird“, sagt sie und lächelt vielsagend.