© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 40/22 / 30. September 2022

Kein Auge für Arbeiter
Streit ums Bürgergeld: Das neue Hartz IV gleicht Inflation künftig vorab aus. Niedriglöhner erhalten aber teils weniger als Sozialleistungsempfänger
Dirk Meyer

Respekt für dich – Kompetenz für Deutschland, so lautete das Motto der SPD unter Olaf Scholz im Bundestagswahlkampf 2021. Zentraler Programmpunkt war das neue „Bürgergeld“. Läuft alles nach Plan, so wird der neue Name laut dem vorliegenden Gesetzentwurf zum 1. Januar 2023 das schlecht klingende Hartz IV ablösen. Doch Respekt gebührt nicht nur den Hilfsbedürftigen. Sozial wäre auch, die finanzierenden, „hart arbeitenden Bürger“ vor Ausbeutung zu schützen. Im Grunde geht es um das magische Viereck von Angemessenheit, Anreizen, Finanzierung und bürokratischem Aufwand. Sanktionen werden künftig stark gelockert, Regelsatz und Schonvermögen steigen, einher geht ein gewisser Bürokratieabbau. Linke, SPD und Liberale scheinen vereint.

Das alte Lohnabstandsgebot ist völlig ruiniert

Der Regelsatz der Grundsicherung soll von 449 Euro um 53 Euro auf 502 Euro steigen. Nach alter Regelung wären es im kommenden Jahr nur 20 Euro mehr gewesen. Hintergrund waren verfassungsrechtliche Bedenken, die hohe Inflation erst mit einer Verzögerung von bis zu einem Jahr zu berücksichtigen, da der sozialrechtliche Mindestbedarf zu garantieren ist. Dieser wird speziell vom Statistischen Bundesamt – weiterhin nach hergebrachter Methode – berechnet. Lebenspartner erhalten zukünftig 451 Euro (bisher 404 Euro), Kinder im Alter von 14 bis 17 Jahren 420 Euro (bisher 376 Euro). Sollte sich die Inflationsprognose als zu hoch erweisen, werden die Erhöhungen in den Folgejahren durch einen „Nachholfaktor“ automatisch nach unten korrigiert.

Nebenstehende Berechnungen zeigen, daß ein Bürgergeldempfänger ohne Arbeit monatlich 502 Euro erhält, während eine 40 Stunden in der Woche arbeitende Person bei einem Bruttolohn von 2.520 Euro auf 503 Euro kommt, nachdem Sozialabgaben, Miete und Energiekosten abgezogen wurden. Dies entspricht einem Stundenlohn von 14,54 Euro – mehr als der zum Oktober auf 12 Euro erhöhte gesetzliche Mindestlohn. 

Die daraus entstehenden negativen Arbeitsanreize hatte der Gesetzgeber bis 2011 durch das sogenannte Lohnabstandsgebot zu verhindern gewußt. Danach stellte die Bedarfsbemessung sicher, daß bei Ehepaaren mit drei Kindern die Hartz-IV-Regelsätze unter den erzielten monatlichen durchschnittlichen Nettoarbeitsentgelten unterer Lohn- und Gehaltsgruppen blieben, wenn eine alleinverdienende vollzeitbeschäftigte Person als Berechnungsgrundlage herangezogen wurde. Die Zusammenlegung der Arbeitslosen- und Sozialhilfe zum Arbeitslosengeld II und der Ausbau des Niedriglohnsektors – SPD-Agenda 2010 – mit sehr positiven Beschäftigungswirkungen auf den Arbeitsmarkt führte indes zu einer Umkehrung des Lohnabstandsgebots in den Marktsegmenten Einzelhandel, Gastgewerbe, Pflege, Friseur und Landwirtschaft. Das Sozialgeld überstieg dort mitunter den Nettolohn.

Etwa 860.000 erwerbstätige Leistungsempfänger bezogen 2021 neben ihrem Lohn Hartz IV. Gut 100.000 dieser „Aufstocker“ gehen einer Vollzeittätigkeit nach. Neben dem 12-Euro-Mindestlohn dürfte auch eine größere Kinderzahl das Existenzminimum der Bedarfsgemeinschaft erhöht haben. In Kombination mit einer geringen Qualifikation reicht das Erwerbseinkommen eines Alleinverdieners dann nicht mehr aus – Sozialgeld wird „aufgestockt“.

Sozialstandards setzen damit indirekt Mindestlöhne – und umgekehrt. Anreizkonflikte sind die Folge. Daß Geringqualifizierte und Eltern weiterhin einen Wunsch zu arbeiten haben, auch relativ schlecht bezahlte Tätigkeiten anzunehmen, liegt unter anderem an der Androhung von Leistungskürzungen durch die Jobcenter. Bereits Ende 2019 wurden die Regelungen vom Bundesverfassungsgericht jedoch teilweise beanstandet und durch eine fachliche Weisung neu geregelt. In der Folge sanken die neu ausgesprochenen Sanktionen erheblich – von 807.000 im Jahr 2019 auf rund 194.000 zwei Jahre später. Die Hälfte beruhte auf Meldeversäumnissen, etwa 11 Prozent auf der Weigerung, Pflichten der Eingliederungsvereinbarung zu erfüllen und 27 Prozent auf der Weigerung, eine Arbeit, Ausbildung oder Maßnahme aufzunehmen oder fortzuführen. 

Die Neuregelung sieht für das erste halbe Jahr des Bürgergeld-Bezugs die „Vertrauenszeit“ und damit grundsätzlich keine Sanktionen mehr vor. Nur wenn Leistungsbezieher jegliche Kooperation mit dem Jobcenter verweigern, erfolgt eine einmonatige Leistungsminderung von nur zehn Prozent. Ab dem siebten Monat sind Kürzungen bis zu 30 Prozent möglich – mehr läßt Karlsruhe nicht mehr zu. Ausgenommen von Streichungen sind zukünftig die Kosten für Wohnung und Heizung, die weiterhin ungekürzt übernommen werden. Auch die schärferen Sanktionen für unter 25jährige werden gestrichen. 

Zusätzlich erhalten die Bürgergeldbezieher eine zweijährige, recht komfortable Schonfrist für Wohnung und Vermögen bis zu 60.000 Euro. In dieser Zeit entfällt die Prüfung auf Angemessenheit der Mietwohnung und des Wohneigentums inklusive Nebenkosten. Zwangsumzüge werden so vermieden, Streß gemindert und das soziale Umfeld bleibt erhalten. Ersparnisse werden geschont. So soll der Schock der Arbeitslosigkeit gemindert werden. Zusätzlich erhofft sich der Staat eine Verwaltungsvereinfachung, erhöhte Rechtssicherheit sowie eingesparte Verwaltungs- und Gerichtskosten. Insgesamt plant die Regierung aber 2023 mit Mehrausgaben von 4,8 Milliarden Euro.

Der Bund zeigt sich allerdings bei der Regelung zum Hinzuverdienst kleinmütig und großzügig zugleich. Künftig dürfen Aufstocker von 1.100 Euro Lohn 338 Euro statt 280 Euro mit nach Hause nehmen. Der berufliche Wiedereinstieg lohnt ein wenig mehr. Um das zu erreichen, steuert der Fiskus künftig im Bereich von 520 bis zu 1.000 Euro nur noch 70 Prozent des Lohns weg, anstatt wie bisher 80 Prozent. Bis 520 Euro gelten weiterhin die 80 Prozent. Warum 520 Euro? Das ist die neue Minijob-Grenze, bis zu der Schüler, Studenten und Auszubildende ohne Abzüge etwas dazuverdienen können. Die ersten 100 Euro bleiben weiter steuerfrei für alle.

Schonfrist für Vermögen erhöht – Respekt für erbrachte Arbeit

Von den 5,3 Millionen ALG-II-Berechtigten werden lediglich 1,5 Millionen als „arbeitslos“ gezählt, davon knapp die Hälfte länger als ein Jahr. Bei insgesamt 34,7 Milliarden Euro Unterstützungsleistungen (2020) gehen 13 Milliarden Euro an ausländische Bezieher, darunter Syrer (3,4 Mrd. €), Afghanen (0,9 Mrd. €) und Iraker (0,8 Mrd. €). Stand August 2022 kommen 546.000 regelleistungsberechtigte Ukrainer hinzu. Die jüngste Mobilmachung in Rußland könnte einen weiteren Massenandrang auslösen. Sowohl für Langzeitarbeitslose wie auch für Zugewanderte wirkt das Bürgergeld attraktiver. Respekt ist eine notwendige Bedingung des gesellschaftlichen Zusammenlebens – jedoch nicht hinreichend für eine anreizgesteuerte Finanzierung und soziale Integration in den Arbeitsmarkt.

Foto: Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) reibt sich ein Auge: Das neue Bürgergeld will Hartz IV mit „Respekt“ sein. Dabei krankt das System grundlegend.