© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 40/22 / 30. September 2022

Wenn der Schleier fällt
Proteste im Iran: Nach dem Tod einer Frau in Haft entflammt der Unmut über das Kopftuch
Marc Zoellner

Wir sind dem Führer gehorsam!“: Plakataufschriften wie diese dominierten die Demonstrationen im Zentrum der iranischen Hauptstadt Teheran, zu welchen sich allein vergangenes Wochenende kurz nach dem Freitagsgebet Zehntausende Iraner versammelt hatten, um ihre Solidarität mit der schiitischen Regierung zum Ausdruck zu bringen. Bis zum Sonntag, berichtet die staatliche iranische Nachrichtenagentur „Islamic Republic News Agency“ (IRNA), habe die Anzahl regimetreuer Demonstranten bereits „mehrere hunderttausend“ allein in Teheran betragen. „Sie riefen Slogans und forderten ein entschiedenes Vorgehen der Polizeikräfte gegen die Störer der öffentlichen Ordnung sowie ein hartes Vorgehen der Justiz gegen die Randalierer“, berichtet IRNA von den Protesten. Neben unzähligen iranischen Flaggen und Porträts des Ayatollah Khomeini waren auch Bilder von Qasem Soleimani zu sehen, jenes Kommandeurs der „Iranischen Revolutionsgarde“, der im Januar 2020 von einer US-Drohne im Irak getötet wurde. In einer Ansprache lobte Nasser Kanaani, der Sprecher des iranischen Außenministeriums, „die millionenstarke Präsenz von Menschen auf den Straßen und Plätzen des Iran zur Unterstützung der Regierung“ und warnte vor einer „hybriden Kriegführung des Westens“ gegen den Iran.

Das Bild, welches das iranische Regime und seine Medien derzeit von den Unruhen im Land zeichnen, wird der Realität jedoch keineswegs gerecht: Tatsache ist zwar, daß der Teheraner Theokratie der Kraftakt gelungen war, einen Großteil seiner Anhänger zum Wochenende in der Hauptstadt zu mobilisieren. Tatsache ist allerdings auch, daß es dem Regime hingegen nicht gelang, mit seiner Machtdemonstration von jenem Flächenbrand abzulenken, welcher in friedlichen wie gewalttätigen Protesten den Iran seit dem 17. September erschüttert.

Beginnend in der kurdischen Provinzstadt Saqqez im Nordwesten des Iran haben die Proteste längst auf Metropolen wie Schiras und Kermanschah im Westen sowie Kerman im äußersten Südosten des Landes übergegriffen. In Maschhad, unweit der Grenze zu Afghanistan, erstachen aufgebrachte Demonstranten bei Zusammenstößen mit Sicherheitskräften vergangenen Freitag drei regierungsnahe Milizionäre. Bereits am 20. September, drei Tage nach Beginn der jüngsten Serie von Protesten, wurden aus über 16 der 31 iranischen Provinzen Demonstrationen gegen das iranische Regime vermeldet. Mehr als 50 Menschen seien während der Unruhen bereits ums Leben gekommen, vermelden Menschenrechtsorganisationen; größtenteils durch Gewalttaten der Sicherheitskräfte, die unter anderem mit Schrotladungen das Feuer auf Demonstranten eröffnet hätten.

Vor allem in den kurdischen Landstrichen regt sich Widerstand

In der Nacht zum Montag versammelten sich auch in Teheran Hunderte zumeist weibliche Demonstranten, um unter dem Beifall von Passanten sowie vor laufenden Kameras öffentlich ihre Hidschab-Verschleierungen zu verbrennen. „Wir wollen keine Islamische Republik!“, skandierte die Menge bis zum Eingreifen der Polizei. Bereits am Donnerstag zuvor war die prominente iranische Journalistin Niloofar Hamedi während einer Razzia in ihrem Haus von Sicherheitskräften verhaftet worden. Ihr Vergehen: Sie hatte als erste über Mahsa Amini berichtet, jene erst 22 Jahre junge Frau, deren gewaltsamer Tod als Auslöser der jüngsten Proteste im Iran gilt.

Am 13. September war Amini aus der kurdischen Provinz nach Teheran gereist, um ihren anstehenden Geburtstag mit Familienangehörigen zu feiern. Nur einen Tag später wurde die junge Frau vor dem Eingang einer U-Bahn-Station von der iranischen Religionspolizei unter dem Vorwand, sie habe ihren Hidschab nicht korrekt über sämtlichem Kopfhaar getragen, in einen nahe stehenden Einsatzwagen sowie anschließend auf eine Polizeiwache verschleppt und dort schwer mißhandelt. Zwei Tage später stellten Ärzte den Hirntod der inhaftierten Frau fest. Nach ihrer Beisetzung, die nach islamischem Ritus schon am 17. September erfolgte, formierten sich die ersten Proteste in ihrer Heimatstadt Saqqez, die tags darauf, getragen durch die Berichterstattung Hamedis, auf andere Landesteile übergriffen.

Die Motive der Demonstranten sind dabei von höchst unterschiedlicher Natur. So mahnen kurdische Interessenverbände wie das „Deutsch-kurdische Forum“ (DKF), daß „willkürliche Verhaftungen, Folter und Hinrichtungen in den kurdischen Gebieten“ zum traurigen Alltag gehörten. „Kurden im Iran haben von Anfang an die Islamische Republik Iran verneint“, so das DKF in einer der JUNGEN FREIHEIT vorliegenden Erklärung, und Mahsa Amini habe „diesen Verstoß mit ihrem Leben bezahlt, da sie Kurdin war“. In der Tat sieht die Rechtsprechung des Iran bei Verstößen gegen die Verschleierungspflicht zwar Stockschläge vor. Praktisch hingegen werden die meisten von der Religionspolizei aufgegriffenen unverschleierten Frauen statt körperlicher Bestrafung einer sogenannten „Belehrungsmaßnahme“ zugewiesen, deren Verhöre oftmals auch Stunden bis Tage andauern können. Der Protest mancher Kurden ist somit auch einer um ethnische Gleichstellung oder gar Souveränität.

Die meisten Demonstranten aus nichtkurdischen Gebieten dürfte hingegen ihr allgemeines Oppositionsbefinden gegenüber der theokratischen Diktatur motivieren, die seit 1979 über den Iran herrscht. Speziell dem Hidschab als Kleidungsstück kam in der iranischen Geschichte seit je eine wechselseitige symbolische Bedeutung zu: Bereits im Jahr 1936 erließ der damalige Schah von Persien, Reza Pahlavi, ein „Kashf-e hijab“ („Enthüllung“) genanntes Gesetz, welches sämtlichen iranischen Frauen das Tragen eines Hidschab in der Öffentlichkeit verbot. Inspiriert wurde Pahlavi hierbei vom prowestlichen Kurs des ersten türkischen Präsidenten Mustafa Kemal Atatürk.

Mahsa Amini könnte zur Symbolfigur der Proteste werden

In den 1970ern wurde der Hidschab auch bei liberalen Frauen zum Symbol des Widerstands gegen das Schah-Regime – doch die ersten Versuche des 1979 an die Macht gekommenen Ayatollah Khomeini, den Hidschab verpflichtend zu machen, scheiterten an ihrem erbitterten Widerstand. Noch zum Internationalen Frauentag am 8. März 1979 gingen in Teheran Zehntausende iranische Frauen gegen Khomeinis Hidschab-Gesetze auf die Straße. Erst 1983 gelang es Khomeini, die Verschleierungspflicht insbesondere gegen die protestierende Teheraner Frauenrechtsbewegung durchzusetzen.

Im Dezember 2017 wurde Vida Mohaved als „Frau von der Enghelab-Straße“ berühmt: Als Protest gegen das iranische Regime hatte die damals 31jährige in Teheran öffentlich ihren Schleier abgenommen, wurde daraufhin von der Religionspolizei verhaftet und erst auf internationalen Druck wieder freigelassen. In der Folge wurde Mohaved zur Symbolfigur der – schlußendlich gescheiterten – Proteste vom Januar 2018 stilisiert. Die durch die Religionspolizei getötete Mahsa Amini könnte im liberalen Milieu der iranischen Opposition in den kommenden Wochen eine ähnliche Sogwirkung erfahren.