© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 40/22 / 30. September 2022

„Irgendwie suboptimal gelaufen“
Kino: Bully Herbigs Film über den Spiegel-Skandal ist die beste Mediensatire seit „Schtonk!“
Dietmar Mehrens

Die Wahrheit. Sonst nichts.“ Es klingt so schön. So schön schlicht. Nur mit der Wahrheit hat der Slogan des Magazins Chronik, begleitet von einer PR-Kampagne, nichts zu tun. Genüßlich führt Regisseur Michael „Bully“ Herbig, der sich schon mit seinem DDR-kritischen Fluchtdrama „Ballon“ (2018) als Geisterfahrer der linksgepolten deutschen Kulturszene erwies, in „Tausend Zeilen“ die Schere zwischen Anspruch und Wirklichkeit vor Augen, die beim selbsternannten Flaggschiff des deutschen Qualitätsjournalismus, dem Spiegel, in ihre beiden Einzelteile zerfiel. Der vielfach prämierte und hofierte Sensationsreporter Claas Relotius, im Film Lars Bogenius oder auch „der liebe Lars“ genannt, hatte dem Blatt eine Reihe von Fälschungen angedreht. Juan Moreno, der im Film Romero heißt und von Elyas M’Barek gespielt wird, ist der Mann, der den Skandal aufdeckte. Er schrieb darüber das Enthüllungsbuch „Tausend Zeilen Lüge“, das der „Schuh des Manitu“-Star nun verfilmte.

Die Namen der einzelnen Protagonisten (und des Magazins, das hier Chronik heißt und auf der Titelseite einen blauen Rahmen hat) sind ein wirkungsvolles satirisches Stilmittel. Im Drehbuch von Hermann Florin sind sie so abgeändert, daß sich jeder von ihnen trotzdem mühelos seiner realen Bezugsperson zuordnen läßt. Özlem Gezer, damals Vizechefin des Gesellschaftsressorts, heißt Yasmin Saleem, die Rolle spielt Sara Fazilat; Ullrich Fichtner, damals designierter Chefredakteur des Spiegel, heißt Christian Eichner und wird verkörpert von Jörg Hartmann; Matthias Geyer, damals Chef des Gesellschaftsressorts, heißt im Film Rainer Habicht und wird gespielt von Michael Maertens. Ein Geier bleibt er trotzdem, ein seelenloser Karrieregeier nämlich. 

„Das meiste ist allerdings erfunden. Ganz ehrlich.“ So steht es in einer Einblendung am Anfang des Films. Es ist das parodistische Gegenprogramm zu „Die Wahrheit. Sonst nichts.“ Trotz der ironisch überbetonten Fiktionalisierung der realen Begebenheiten, auf denen er basiert, enthält der Film nämlich mehr Wahrheit als die aufregenden Sensationsreportagen, die Claas Relotius dem Nachrichtenmagazin jahrelang unterjubeln konnte. 

Lars Bogenius (Jonas Nay), der wie eine Begonie, die stolz ihren Blütenstengel erhebt, mit den „geilsten Reportagen“ zum Reporter-Aushängeschild der Chronik aufgeblüht ist, löst einen Skandal aus: Ausgerechnet der Mann, der mit Anfang Dreißig bereits einen DPP (Deutschen Pressepreis) nach dem anderen abgeräumt hat, der allen in dem Prunkbau an der Elbe als „professionell brillant und privat integer“, als Musterjournalist präsentiert wird, von dem man sich mal ’ne Scheibe abschneiden kann, ist ein Betrüger. Man könnte auch sagen: Bogenius hat den Bogen raus, weiß, wie man sich nach oben schreibt. Ein schönes Beispiel: die Geschichte „Touchdown“ über Colin Kaepernick, den Football-Star, der das Protest-Niederknien vor Sportveranstaltungen erfand. Lebensnah, ergreifend – und frei erfunden. Seine in blumiger Sprache und Mut zum Emotionalen verfaßten Reportagen entsprechen ganz dem Leitbild, das die beiden Chronik-Karrieristen Habicht und Eichner etabliert haben: „exklusive, spannende Geschichten“ statt „langweiligem Scheiß“. Beide stehen kurz vor einer Beförderung. Bogenius ist Habichts designierter Nachfolger.

Mit „Jaegers Grenze“ jedoch kommen auch die Lügengebäude des Herrn Bogenius alias Relotius an ihre Grenzen. „Jaegers Grenze“ hieß der Spiegel-Report, der Relotius zu Fall brachte. Und genauso heißt die Geschichte, die Bogenius abliefert. Bei den Titeln der Skandaltexte kann Herbig auf die Fiktionalisierung verzichten; diese sind bereits Fiktionen. 

Und so kommt der Stein ins Rollen: Habicht, Leiter des Gesellschaftsressorts, stellt Bogenius für die in Auftrag gegebene Reportage über illegale Migration von Mexiko in die USA als Co-Autor den eher blassen Juan Romero an die Seite. Der ist das genaue Gegenteil des mehrfachen Pressepreisträgers: glanzlos, ungepflegt und ein bißchen langweilig. „Papa ist dauernd weg, und wenn er mal zu Hause ist, schreibt er Sachen in seinen Computer“, sagt eine seiner vier Töchter über ihn. Aber er hat einen Vorteil: Er kennt die Materie, und er befindet sich bereits vor Ort.

Genauso hat es sich auch in der Wirklichkeit zugetragen: Als sich im Oktober 2018 in Mexiko eine größere Gruppe von Migranten auf die US-Grenze zubewegt, hat Matthias Geyer die Idee, den Stoff von zwei Seiten zu beleuchten: Juan Moreno, gebürtiger Spanier, soll sich in die Flüchtlingskarawane einschleusen und deren Leiden hautnah miterleben, während Claas Relotius auf der anderen Seite des Rio Grande eine Bürgerwehr, bewaffnet, Trump-Wähler und in der Wahl ihrer Mittel nicht zimperlich, auf ihren Streifzügen durchs Grenzland begleitet.

Mehrere Autoren für eine Geschichte, das ist beim Spiegel nicht unüblich. Für die Zusammenstellung des Textes müssen sich die Schreiberlinge miteinander abstimmen. Die Endfassung soll Relotius besorgen. Doch Moreno stößt auf Ungereimtheiten. Das Foto von Jaeger, dem Titelhelden, stammt aus der New York Times. Und Jaeger heißt er auch nicht. Milizchef Foley, der angeblich supergeheim operiert und um nichts in der Welt fotografiert werden will, ist der Protagonist einer frei zugänglichen Filmdoku.

Moreno schreibt Relotius eine Nachricht, in der er auf die Ungereimtheiten hinweist. Eine Antwort bekommt er nicht. Der Reporter nimmt Kontakt zum Faktenprüfer Dr. André Geicke auf, in Herbigs Film ein bequemer Dödel, der infolge miserabler Ernährung Fett angesetzt hat und von Relotius spielend eingewickelt wird. Dann geht der freie Spiegel-Mitarbeiter zu Ressortleiter Geyer. Auch dessen Vorgesetzter Fichtner wird informiert. In der Interpretation von Michael Maertens und Jörg Hartmann werden sie zu depperten Ignoranten, die – konfrontiert mit Morenos Anschuldigungen und Relotius’ Ausflüchten – der Lüge den Vorzug geben, weil das der eigenen Karriere am wenigsten schadet. „Ich war verzweifelt“, wird der Deutschspanier später im Spiegel über die Reaktion seiner Vorgesetzten schreiben. Denn plötzlich ist er der Böse: ein neidischer Intrigant. Die Wände, gegen die er gelaufen sei, seien „Betonwände“ gewesen, „Spiegel-Qualität gewissermaßen“. Im Film sieht das so aus: Als Habicht und Eichner endlich einsehen müssen, daß sie aufs falsche Pferd gesetzt haben, schauen sie einander ratlos an. Dann stellt Habicht frustriert fest: „Irgendwie suboptimal gelaufen.“

Die larmoyante Betroffenheitsrhetorik, mit der das Nachrichtenmagazin Ende 2018 den Skandal selbst öffentlich machte, sucht man in Herbigs schonungslos sarkastischem und raffiniert komponiertem Film vergeblich. Vor allem die leitenden Redakteure Habicht und Eichner zieht der Regisseur in bester „Schtonk!“-Manier gnadenlos durch den Kakao. Sie sind in „Tausend Zeilen“ nicht die Opfer eines Betrügers, sie sind Opfer der eigenen Arroganz und Beschränktheit. Der reale Eichner, der durch den Fall stark beschädigte Ullrich Fichtner, veröffentlichte am 19. Dezember 2018 einen Krokodilstränen-Aufsatz über den Fall. Zitat: „Auf dem Flur im neunten Stock des Spiegel-Hauses, auf dem Relotius’ Zimmer 09-161 lag, sind Belegschaft und Leitung des Gesellschaftsressorts, in dem er arbeitete, fassungslos und traurig. Ein Kollege, der viel mit Relotius’ Texten zu tun hatte, sagte Anfang dieser Woche, die Affäre fühle sich an ‘wie ein Trauerfall in der Familie’.‘“ Während einem hier Tränen der Rührung zu kommen drohen, sind es in „Tausend Zeilen“ eher Lachtränen, mit denen man zu kämpfen hat. Habicht und Eichner agieren wie in der Muppet-Show, dreschen Phrasen wie Kermit der Frosch: „Wir bringen Dramatik rein!“ Ja, was denn nun, fragt man sich als Zuschauer, Dramatik oder Wahrheit, worum geht’s? Unter Herbigs Regie mutiert das Flaggschiff des deutschen Qualitätsjournalismus zur Galeere unbarmherziger Einpeitscher, die mit Parolen wie „Wenn einer die knackt, dann du!“ ihre Ruderer zu Höchstleistungen anzuspornen trachten. „Mein Druck, nicht scheitern zu dürfen, wurde immer größer, je erfolgreicher ich wurde“, versuchte sich der gefallene Held später zu rechtfertigen.

„Wer heute einen Claas-Relotius-Text liest, wird sich fragen, wie dämlich der Spiegel und all die Preisjurys gewesen sein müssen, um den Unfug zu glauben“, schrieb Juan Moreno im Aufdeckungs-Spiegel (Nr. 52/2018) mit der Titelschlagzeile „Sagen, was ist“. Kann man jener selbstverliebten Branche, die seit Jahr und Tag auf denselben plattgefahrenen Denkpisten unterwegs ist, an ihre eigenen Framing-Lügen glaubt wie Sektengurus an die persönliche Erwählung und sich damit verführbar gemacht hat wie ein naiver Grundschüler, noch ein erschütternderes Zeugnis ausstellen?

Auf eineinhalb Seiten durfte Moreno in dem Heft seine Sicht der Affäre darstellen. Fichtners Version nahm sieben Seiten ein. Gleich zu Beginn seines Berichts „Es war ein Gefühl“ schildert Moreno den Anruf eines Verlegers, der „das enorme Verwertungspotential der Geschichte“ besprechen wollte. „Buch, Doku, Film, alles möglich“, habe der Mann am Telefon gesagt.

Nun ist, drei Jahre nach dem Buch, also auch der Film da. Und er ist grandios gelungen. Minutiös an den Fakten orientiert, gleichwohl satirischer als sein ebenfalls sehr sehenswertes US-Pendant „Shattered Glass“ (2003), andererseits aber nicht so durchgeknallt und überkandidelt wie Helmut Dietls legendäre Komödie „Schtonk!“ (1992) über den Skandal bei den Kollegen von der anderen Galeere des Qualitätsjournalismus, dem Stern. Die ungeschminkte Wahrheit eben. Sonst nichts.

Kinostart ist am 29. September 2022

Foto: „Chronik“-Chefredakteur Eichner (Jörg Hartmann, l.) und Ressortleiter Habicht (Michael Maertens): Depperte Ignoranten, die der Lüge den Vorzug geben, weil das der eigenen Karriere am wenigsten schadet