© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 40/22 / 30. September 2022

Bunte Zeichen setzen im moralisierenden Diskurs
Renaissance der Flaggen
(ob)

Abgesehen von Fußballweltmeisterschaften, so erinnert sich der deutsch-amerikanische Schriftsteller Paul-Henri Campbell in seinem Essay über „Visuelle Kommunikation im politischen Feld“ (Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte, 9/2022), habe sich der Drang der Deutschen, Flagge zu zeigen, nur in ihren Schrebergartenkolonien entladen. Im krassen Gegensatz zur Heimat seines Vaters, wo „Stars and Stripes“ an jeder Veranda, vor Kirchen und Baseballstadien, in Little Italy wie in Chinatown hängen. Doch nicht erst mit Beginn des Ukrainekrieges scheine der deutsche öffentliche Raum mit buntem Tuch gegenüber dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten aufzuholen. Allerdings falle nicht die Zunahme von Schwarz-Rot-Gold ins Auge, sondern, wie es einer „bunten Republik“ geziemt, die Vielfalt des Flaggenschmucks. Ein Übergewicht habe gegenwärtig, wie Campell in der hessischen Provinz beobachtet, Gelb-Blau in Gassen, Erkern, Dachluken. Schärfste Konkurrenz erwachse der ukrainischen Flagge jedoch in der von

Südafrikas Nationalflagge inspirierten „Progress Pride Flag“ der Schwulenbewegung. Es sei „unübersehbar, daß sich gegenwärtig in der westlich geprägten Welt, trotz Säkularisierung und pragmatischem Gebrauch von Symbolen, eine Re-Moralisierung der Symbole vollzieht“, weil die visuelle Natur politischer Kommunikation im Zeitalter sozialer Medien den Gebrauch von Symbolen im vornehmlich „moralisierenden Diskurs der Moderne“ begünstige. So übe heute eine Fülle von visuellen Codes eine Kraft auf das Individuum aus, die von einer politischen Bildungsarbeit, die ihre Botschaften noch schriftsprachlich vermittle, bislang nicht ausreichend verstanden worden sei. 


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