© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 40/22 / 30. September 2022

GegenAufklärung
Kolumne
Karlheinz Weißmann

Es ist sicher nur ein Oberflächeneindruck, aber wenn man in französischen Buchhandlungen die Neuerscheinungen zu Geschichte und Politik durchgeht, hat man immer den Eindruck, daß Theorie und Struktur vorherrschen, in britischen sind es dagegen Erzählung und Persönlichkeit.

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An einem auf Borneo gefundenen altsteinzeitlichen Skelett glauben Archäologen nachweisen zu können, daß einem Heranwachsenden vor etwa 31.000 Jahren ein Fuß amputiert wurde und er die Operation überlebte. Jedenfalls weist der Knochenstumpf Anzeichen der Verheilung auf. Sollte sich die Deutung bestätigen, kann man darin einen weiteren Hinweis sehen, daß „Survival of the fittest“ nie das einzige Prinzip war, nach dem sich unser Dasein ausgerichtet hat. Denn es muß einen sehr starken – moralischen – Impuls gegeben haben, den Mitmenschen gesund zu pflegen, mit Nahrung zu versorgen und für die weiteren Jahre zu helfen, die er als Behinderter vor sich hatte.

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Der 5. September 2022 wird als denkwürdiger Tag in die Geschichte der Kathedrale von Metz eingehen: Die zuständigen kirchlichen Stellen haben das Gotteshaus für einen Catwalk der Damen der französischen Handball-Nationalmannschaft zur Verfügung gestellt, die zuerst im Trikot, dann in Alltagskleidung vor den begeisterten Zuschauern paradierten.

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Mir fehlt bei den Würdigungen des kürzlich verstorbenen Fritz Pleitgen – Journalist, Intendant des Westdeutschen Rundfunks, Vorsitzender der ARD – der Hinweis darauf, welch geschworener Feind der deutschen Einheit er war.

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In einer Zeit, in der alles „volatil“ oder „fluide“ ist, stört das Körperteil Rückgrat nur.

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Der 1.000. Geburtstag von Harald Godwinson in diesem Jahr geht kaum bemerkt vorbei. Der unglückliche Angelsachse, der in der Schlacht bei Hastings Leben und Krone im Kampf gegen den Normannen Wilhelm den Bastard, später den Eroberer, verlor, ist aus dem Gedächtnis getilgt. Selbst in seinem früheren Reich erinnert nur sehr wenig an den Besiegten, sieht man von dem kleinen Gedenkstein ab, der hinter der Abteikirche von Walthamstow errichtet wurde. Vergessen ist der Mann, in Deutschland auch vergessen Heinrich Heines romantisches Gedicht „Schlachtfeld von Hastings“, in dem es heißt: „Gefallen ist der beßre Mann, / Es siegte der Bankert, der schlechte, / Gewappnete Diebe verteilen das Land / Und machen den Freiling zum Knechte.“ Zentrales Thema des Textes ist allerdings die abenteuerliche Bergung von Haralds Leichnam durch seine Geliebte Edith Schwanenhals, die so wenig gesichert ist wie die Bestattung in Walthamstow. Man muß das einem Prozeß der Auslöschung zurechnen, der auch damit zu tun hat, daß „1066“ nicht als kurze militärische Aktion der Normannen mißverstanden werden darf. Hastings war kein Ende, sondern der Anfang einer so brutalen und gründlichen Machtergreifung, daß schon nach einer Generation kein angelsächsischer Widerstand mehr aufflackerte.

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Die Kathedrale von Norwich gehört zu den eher unterschätzten Beispielen mittelalterlicher Sakralbauten Englands. Dabei zählt sie zu den wenigen, in denen ein großer Teil der normannischen Anlage erhalten geblieben ist. Am eindrucksvollsten fand ich bei meinem Besuch aber ein Detail: das Grabmal des Thomas Erpingham. Erpingham diente der englischen Krone über zwei Generationen als Militärführer. Mit fast sechzig Jahren begleitete er noch den Heldenkönig Heinrich V. nach Frankreich. 1415 kommandierte er die Langbogenschützen bei Agincourt, die entscheidend zum englischen Sieg beigetragen haben. Über dem einfachen Stein im Seitenschiff der Kathedrale hängt das Banner Erpinghams, daneben steht eine Vase mit frischen Blumen, die regelmäßig erneuert werden, wie mir einer der Ehrenamtlichen sagte.

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Antifaschismus oder Politische Theorie der dummen Kerle.

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Einmal abgesehen davon, daß es sich bei „Ringe der Macht“ um einen filmischen Fehlschlag ersten Ranges handelt – weniger aufgrund politisch-korrekter Eingriffe, eher weil das Ganze so unglaublich langweilt –, muß man der Woke Police doch recht geben im Hinblick auf die Feststellung, daß das, was da gezeigt wird, im Kern ein „weißer Mythos“ ist. Jedenfalls hat J. R. R. Tol-

kien genau den zu schaffen gesucht. Präzise wäre sogar von einem germanischen beziehungsweise angelsächsischen Mythos zu sprechen. In einem Brief von 1951 schrieb Tolkien über die Absicht, die er mit seinem literarischen Werk verfolgte, er habe für England zurückgewinnen wollen, was es an eigener Überlieferung verloren habe, denn es gebe „keinen Eigenbesitz an (auf seinem Boden und in seiner Sprache heimischen) Geschichten, zumindest keine von dem Charakter, den ich suchte und den ich (als Beimischung) in den Sagen anderer Länder auch fand. Es gab Griechisches, Keltisches, Romanisches, Germanisches, Skandinavisches und Finnisches (das mich tief berührte), aber nichts Englisches, bis auf heruntergekommenes Zeug in den Volksbüchern.“

Die nächste „Gegenaufklärung“ des Historikers Karlheinz Weißmann erscheint am 14. Oktober in der JF-Ausgabe 42/22.