© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 40/22 / 30. September 2022

Die Idylle gestört
Polemische Attacke zum Nationalfeiertag: Westdeutsche blockieren ein Deutschland einig Vaterland
Eberhard Straub

Bei Gründung der Bundesrepublik verzichteten die Westdeutschen von vorneherein auf repräsentative Formen, weil sie angeblich demokratischer Schlichtheit widersprechen. Der Inbegriff ihrer Stillosigkeit ist das Innere der 1948 wiederhergestellten Paulskirche in Frankfurt am Main, immerhin die Stätte, wo die erste deutsche Nationalversammlung 1848 tagte und die erste Verfassung für ein deutsches Reich verabschiedet wurde, welches nicht alle Deutsche, aber viele zusammenfaßte, so daß es von diesen als Nation verstanden werden konnte.

Im Gegensatz zu früheren national-liberalen Revolutionären fürchteten die Westdeutschen zwischen Rhein und Elbe jeden Enthusiasmus oder auch nur sanfte Gefühle im Zusammenhang mit der neuen Republik oder mit der Demokratie. Beides blieb der praktischen Vernunft überlassen, die möglichst nicht von irrationalen Aufwallungen getrübt werden sollte. Im Geltungsbereich ihres Grundgesetzes machten es sich die „Menschen in deutschen Landen“ gemütlich und waren dankbar, nicht mit Aufforderungen belästigt zu werden, etwa einen Gemeinsinn zu entwickeln und sich zuweilen festlich und froh ihrer Zusammengehörigkeit zu vergewissern. Ihren Staat verstanden sie als Wirtschaftsstandort, dessen Wachstumsraten jedem versprachen: Leistung wird sich immer lohnen, und die dafür sorgten, daß keiner unter dem Schatten der Wohlstandseichen zu kurz kam. 

Im Westen erlöst von dem Fluch, ein Deutscher zu sein

Die Bundesrepublik nannte sich nach Deutschland. Aber deren Organisatoren sahen alsbald ihre besondere Würde darin, Westdeutschland zu sein, zum Westen als einer Heilsgemeinschaft zu gehören, die materielle und seelische Werte schafft. Im Westen erlösten sich die Westdeutschen von Deutschland und dem Fluch, ein Deutscher zu sein. Sie reisten kreuz und quer durch Westeuropa, trieben Allotria bei Speis und Trank und kamen sich ungemein westlich und westeuropäisch vor. Was sie zu Deutschen machte, war die Deutsche Mark. Sie verbargen ihren Stolz auf diesen Wert überhaupt nicht.

Eine Vorstellung von Deutschland, deutscher Geschichte und deutscher Kultur verdunstete rasch, was bei der allseits betriebenen Erziehung zur Verwestlichung nur begrüßt werden konnte. Bestätigte doch die Lustlosigkeit, sich mit der eigenen Geschichte zu beschäftigen, daß Westdeutsche keine Revanchisten sind und wahre Menschen unter den Mitmenschen im Westen sein wollen.

Die Westdeutschen waren seitdem die einzigen Europäer, die keine Geschichte hatten, sondern nur eine Vergangenheit, die mehr belästigte als belastete und unschädlich gemacht wurde durch unermüdliche Bewältigung, die viele sonst brotlos gebliebene Akademiker als gewissenhaften Orientierungshelfern Anerkennung und Deutsche Mark verschaffte. Auch die Vergangenheitsbewältigung und moralische Rüstungsindustrie erwies sich als dauernde Wachstumsbranche. 

In diesem Nachbarland der Welt, trotz aller Verwestlichung, brach Panik aus, als im November 1989 ein Rückruf in die Geschichte aus dem Osten kam: Wir sind ein Volk! Gerade das wollten die Westdeutschen unter keinen Umständen sein. Und was für ein Volk waren schon diese DDRler oder Ostdeutschen? Sie waren so gar nicht weltläufig, unelegant, uneuropäisch, deutsch im trostlosesten Sinn. Mit ihnen konnte man keinen Staat machen. In Leipzig oder Dresden gingen schrecklich aufgeregte Massen auf die Straße. Im Westen war man peinlich berührt. Besonnene Westdeutsche blieben zu Hause, statt mit Volksaufläufen lautstark eine Wiedervereinigung zu fordern. Das Verlangen nach nationaler Einheit beschränkte sich auf die DDR. In der Bundesrepublik gab es hingegen sogleich hektische Bemühungen, den Besitzstand zu wahren und Westdeutschland vor Veränderung zu schützen.  Den lärmenden Massen, die einen befreundeten Staat destabilisieren wollten im Namen der deutschen Nation, mußte sofort klargemacht werden, daß es keine Wiedervereinigung geben kann, sondern höchstens eine „Vereinigung“ zweier Staaten, als hätte es nie eine lange gemeinsame Geschichte der Deutschen gegeben. 

Diesem Zusammenschluß stehen unberechenbare Leidenschaften nur im Wege. Es ist dringend geboten, ihn vorsichtig voranzutreiben mit Rücksicht auf die verständliche Furcht der europäischen Nachbarn vor einer erweiterten Bundesrepublik und deshalb in europäischer Gesinnung, fern vom überholten Nationalismus und immer in Treue zu den Werten des Grundgesetzes, die mit Verantwortungspolitik und nicht mit Machtpolitik zusammenhängen. In solchen offiziellen Beteuerungen äußerte sich die Angst der Bonner um ihr Westdeutschland und vor einem neuen, anderen Deutschland. Für sie gab es nur Westdeutschland. Sofern es überhaupt noch Deutsche geben sollte, deren Herz aber in europäischer Verantwortung schlagen sollte, dann konnten es nur Westdeutsche sein, andere Deutsche vermochte sich ein Bonner gar nicht vorzustellen.

Die große Chance, nun in Einigkeit und Freiheit einen gemeinsamen deutschen Staat zu schaffen, dessen Verfassung und Rahmen die Deutschen ungeachtet früherer Auflagen ihrer Sieger bestimmten, von denen einer, die Sowjetunion, gar nicht mehr als Sieger auftrat, wurde ganz bewußt von den Westdeutschen mißachtet. Die DDR trat in die Bundesrepublik ein, die von nun an alles daransetzte, aus dem Osten einen Westen zu machen, Deutschland verschwand endgültig in Westdeutschland und damit in der Bundesrepublik. Denn mit dem Beitritt der DDR wäre Deutschland größer geworden, wie es immer wieder hieß. Ganz offensichtlich war die frühere DDR, immerhin ein deutscher Staat, kein Teil Deutschlands und konnte es nur unter westdeutscher Anleitung werden.

Die Teilung durch Teilen zu überwinden, galt als Zumutung

Damit begannen die Schwierigkeiten, die bis heute nicht behoben wurden, daß es zwar eine erweiterte Bundesrepublik gibt, aber kein „Deutschland, einig Vaterland“. Unter welchem Namen ließ sich die ehemalige DDR in die BRD integrieren? „Beitrittsgebiet“ gefiel vielleicht Bürokraten, doch diese westdeutsche Wendung verdeutlichte allzu drastisch, daß die Beigetretenen sich zu fügen, zu gehorchen und sich einzupassen hatten. Deshalb verfielen die rheinischen Verfassungslyriker auf so verheißungsvolle Wendungen: junge oder neue Bundesländer, durch das alles verjüngende und stets alles Neue sorgsam fördernde Grundgesetz und die föderalistische Struktur der Bundesrepublik ins Leben gerufen. Allerdings waren Thüringen und Sachsen, Brandenburg und Mecklenburg, die nun wieder erstanden, alte Staaten und Länder. Jung und neu sind hingegen die künstlichen, von den Siegern erfundenen Gebilde wie Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen oder Rheinland-Pfalz. Sachsen, Thüringer oder Mecklenburger waren stolz auf ihre Geschichte und halten es für blanken Hohn, als junge und deshalb noch nicht reif gewordene Bundesländer allmählich erwachsen werden zu können unter der Anleitung von westdeutschen Entwicklungshelfern, die sie verwestlichten und zu Westdeutschen umerziehen sollten. 

Diese verloren bald ihre Freude an ihren sinnstiftenden Wortbildungen. Die Vereinigung durfte schließlich keine das Gemüt beschäftigende Angelegenheit sein, sondern war eine unbequeme Frage der Finanzierung, der Kosten und des Nutzens, die erheblich die bundesrepublikanische Idylle störte. Die Teilung etwa durch Teilen zu überwinden, galt Westdeutschen als Zumutung. Es gab nichts, was man mit „dem Osten“ teilen konnte oder mochte, wie jetzt dieses Gebilde bezeichnet wurde, das vollständig entkernt und umgebaut werden mußte, um es in das Modell Deutschland einzupassen, das so liebenswürdig und weltoffen die Bundesrepublik verkörperte.

Der Ostblock war in Europa verschwunden. In der erweiterten Bundesrepublik kam es zu einem neuen Ostblock aufgrund westdeutscher Geschäftigkeit. Was früher „die Ostzone“ war, blieb „der Osten“ oder wurde zu „Ostdeutschland“. Entwicklungshelfer aus Deutschland merkten rasch, daß sie lange und viel zu tun hätten, um die Eingeborenen zu verwestlichen und von ihren östlichen Unzulänglichkeiten zu befreien. Der Osten war allerdings kein unschuldiger geographischer Begriff, sondern ein sehr politisiertes und ideologisiertes Schlagwort. Der gescheiterte, ehedem real existierende Sozialismus jagte keinen Schrecken mehr ein. Osten meinte jetzt vor allem geistige und praktische Mängel, die dringend behoben werden mußten.

Westdeutsche beunruhigte es sehr, daß diese vieler Aufklärung und Umerziehung bedürftigen „Ostdeutschen“ sich als Deutsche begriffen und überhaupt nicht einsehen wollten, was daran verkehrt sein soll. Immerhin gehörten Hegel, Marx und Engels zum geistigen Deutschland, und wegen ihnen und ihrer Bedeutung für den Weltkommunismus war Deutsch eine Weltsprache geblieben. Dies große Dreigestirn ließ sich ohne die Weimarer Klassik nicht verstehen, mit der Thüringer und Sachsen, selbst die Berliner in der Hauptstadt der DDR, besser vertraut waren als ihre westlichen Lehrmeister.  Internationalismus und zu ihm gehörenden Humanismus brauchten sie nicht zu lernen. Der Sozialismus war seinem Inhalt nach international, in seiner konkreten Form und Gestalt aber national und auf die Nation angewiesen. Insofern durfte ein Deutscher selbstbewußt und selbstsicher mit seiner Kultur und Geschichte umgehen.  

Die sogenannten Ostdeutschen erkannten keinen besonderen Vorzug darin, Westdeutsche zu werden. Sie wollten mitten in Europa bleiben, was sie waren, nämlich Deutsche. Diese Bockigkeit, die eigene Geschichte nicht abzuschütteln, reizte und reizt weiterhin ihre Erzieher zur Verwestlichung und Selbstverleugnung. Es waren die Westdeutschen, die eine Spaltung zwischen West und Ost bewirkten und damit verhinderten, daß sich in Einigkeit und Recht und Freiheit ein gemeinsames Vaterland bilden konnte, die Voraussetzung für einen Tag der nationalen Einheit, für einen tatsächlichen Feiertag. Indessen nennen sich Ostdeutsche trotzig selbst mit dieser abträglichen Redensart, weil deutsch und westdeutsch miteinander identisch geworden sind. Wer sich als ostdeutsch charakterisiert, gibt stolz zu verstehen, ein Deutscher zu sein. Das Mängelwesen ist der Westdeutsche in seiner aggressiven Wertegemeinschaft, die spaltet und uneins macht.