© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 40/22 / 30. September 2022

Gescheiterte Hoffnung in weißem Vlies
Musiktheater: Gabriel Feltz dirigiert Luigi Nonos „Intolleranza 1960“ an der Komischen Oper Berlin
Jens Knorr

Auch Theaterstücke, die einmal überholt schienen, erhalten sich am Leben, weil der Augenblick ihrer Verwirklichung versäumt ward. Luigi Nono komponierte die Azione scenica in due tempi „Intolleranza 1960“, eine Szenische Handlung in zwei Teilen also, für die Internationalen Festspiele für zeitgenössische Musik, Venedig. Die Uraufführung 1961 am Teatro La Fenice wurde zum Theaterskandal, zum Triumph der Neuen Musik und des kommunistischen Komponisten. Neofaschistischen Störern gelang es nicht, den Abbruch der Aufführung zu provozieren. Helmut Lachenmann, ein ehemaliger Schüler Nonos, berichtet, daß am Ende der Aufführung Bühnenarbeiter den Komponisten auf ihre Schultern hoben.

Ein Gastarbeiter will in seine Heimat zurückkehren. Er verläßt seine Frau, gerät in eine Demonstration, wird verhaftet, gefoltert, in ein Konzentrationslager gesperrt, aus dem er gemeinsam mit einem Algerier flieht. Er findet eine Gefährtin. Sie geraten in eine Hochwasserkatastrophe. Im Untergang erkennt der Flüchtling, daß Heimat immer dort ist, wo die Welt Änderung braucht.

„Intolleranza 1960“, schreibt Nono über seine Komposition, „ist das Erwachen des menschlichen Bewußtseins eines Mannes, der – als ausländischer Bergarbeiter – sich gegen den Zwang der Bedürfnisse erhebt und einen Sinn, eine ‘menschliche’ Grundlage des Lebens sucht. Nachdem er einige Erfahrungen der Intoleranz und der Angst durchlitten hat, ist er dabei, eine menschliche Beziehung zwischen sich und den anderen wiederzufinden, und wird mit den anderen durch eine Überschwemmung fortgerissen. Es bleibt die Gewißheit, daß der ‘Mensch jetzt dem Menschen ein Helfer ist’. Symbol? Tagesereignis? Phantasie? Alles zusammen in einer Geschichte unserer Zeit.“

Die Komposition verwendet Texte von Ripellino, Éluard, Majakowski, Brecht, Sartre, antifaschistische Parolen verschiedener Zeiten und Länder, Protokolle der Verhöre des Journalisten Julius Fučik durch die Gestapo und von Algeriern durch die französische Polizei, Aussagen über Folterungen im Algerienkrieg, Aussagen französischer Polizisten. Und sie verwendet die avancierten musikalischen Mittel der Zeit.

Nono zählte zu den führenden Vertretern der Neuen Musik

Luigi Nono nahm ab 1950 an den Internationalen Ferienkursen für Neue Musik teil, die seit 1946 alle zwei Jahre in Darmstadt stattfanden, von 1957 bis 1960 auch als Dozent. Die dort vorgestellten und diskutierten Kompositionen werden heute gemeinhin unter dem Begriff Serielle oder Punktuelle Musik subsumiert, ihre Komponisten unter dem Begriff der „Darmstädter Schule“. Arnold Schönbergs Methode des Komponierens mit zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen – die „Dodekaphonie“ oder „Zwölftontechnik“ – weiterdenkend, sollte die Reihentechnik alle musikalischen Parameter der Komposition bis hin zur Großform bestimmen. Gegen die Determiniertheit und totale Beherrschung des musikalischen Materials setzt Nono die geschichtliche Erfahrung, die zum Ausdruck kommen muß: Nicht musikalischer Ausdruck ist als ideologisch zu verwerfen, sondern das Ideologische an musikalischem Ausdruck ist kenntlich zu machen und dem Ausdruck die Dichte der Erfahrung zurückzugewinnen.

Der Widerspruch zwischen klischeehaften Episoden, „Situationen“ im Sinne Sartres, welche heroische Erzählungen des Arbeiterbewegungs-Marxismus aufrufen, avancierter musikalischer Faktur und Rückgriff auf die Theaterexperimente Meyerholds und Piscators sowie der Prager „Laterna magika“ Radols, Svobodas und Kašliks stellt Regie vor immense Schwierigkeiten – und folgenreiche Entscheidungen.

Nono und Librettist Angelo Maria Ripellino hatten sich in den Fünfzigern auf das Grubenunglück in der belgischen Stadt Marcinelle, auf Algerienkrieg und Hochwasser der Po-Ebene bezogen. Für Nürnberg hatte Yaak Karsunke im Auftrag Nonos eine aktualisierte Fassung „Intolleranza 1970“ erarbeitet, für Nancy entstand eine französische Übersetzung als „Intolleranza 1971“. Es hätte Nonos Intentionen durchaus entsprochen, an der Komischen Oper Berlin eine „Intolleranza 2022“ zu erarbeiten. Die Regie beließ es bei der entschärften Übertragung des Schriftstellers Alfred Andersch und einem eingebauten Text der Publizistin Carolin Emcke, kein starker Text. Den zelebriert die Schauspielerin Ilse Ritter, wie alle anderen Sprechtexte auch, dermaßen eingefühlt ermahnend, daß man drauf und dran ist, in seiner Banking-App nachzusehen, ob die monatliche Spende für Opfer aller Arten denn auch pünktlich abgebucht worden ist. Aber wir sind ja im Theater, und das Mobiltelefon ist ausgeschaltet.

Wabernde Bühnennebel, veräußerlichte Innerlichkeit

Der kleinere Teil des Publikums sitzt um eine Eislandschaft herum, die Bühnenbildner Márton Ágh in das Parkett hinein hat bauen lassen; der größere blickt von einer in den Bühnenraum gestellten Tribüne und vom ersten Rang herab. Das Orchester der Komischen Oper hat Platz auf dem zweiten Rang, der Dirigent hoch oben auf einem Dirigier-Podium. Der Raum ist mit weißem Vlies verhängt, gleichfalls die Gesichter der Chorsolisten, die weiß gewandet in Kostümen von Sara Schwartz den „Seelenraum“ bevölkern, als den Regisseur Marco Štorman den Spielort lesen möchte.

Man verschleiert und entschleiert sich, schleicht umeinander herum und aneinander vorbei, blickt wissend ins Ungewisse, umarmt sich gegenseitig, reckt die Arme hilfesuchend empor, wirft sich in Freiheitspose, dreht sich lebensberauscht um sich selbst. Man verkrampft zu lauter Musik und sieht sich zu leiser in die Augen. Man legt sich als untoter Toter darnieder und geht als Lebender allerlei allegorisch-symbolischer Beschäftigung nach, schleppt verkohltes Holz herbei und baut es zu einem rettenden, wenngleich bodenlosen Boot zusammen. Wer rettet hier wen und wovor?

Zwar unterlagen die Inszenatoren nicht der Versuchung, die Aktualität der Uraufführung zu reproduzieren. Doch fühlen sie auch nur wieder der linearen Geschichte eines Protagonisten hinterher – der Tenor Sean Panikkar als Flüchtling – und einer, seiner Passion im Safe Space des fensterlosen Hauses. Und verfehlen den inhaltlichen Kern der Szenen und ihrer Musik.

Den legen Solisten, Chorsolisten und Orchester sowie das Vokalconsort Berlin unter der musikalischen Leitung des Dortmunder Generalmusikdirektors Gabriel Feltz streng frei. Die musikalische Ausführung ist außerordentlich! Waberndem Bühnennebel setzen sie klare Strukturen entgegen, veräußerlichter Innerlichkeit schmerzvolle Einsicht, statischer Allerwelt-Metaphorik widersprüchliche Vorgänge. Gabriel Feltz und die Seinen bringen aus der frühen Arbeit zu Gehör, was der Komponist seinen späten Arbeiten als Konsequenz der frühen abgefordert hat: „Das Ohr aufwecken, die Augen, das menschliche Denken, die Intelligenz, die Exteriorisierung eines Maximums von Interiorisierung. Das ist heute das Entscheidende.“

Auch diese – nochmals: – außerordentliche musikalische Ausführung von Luigi Nonos „Intolleranza 1960“, einem bleibenden Klassiker der Neuen Musik, wird niemanden postwendend zum Kommunismus bekehren, doch, Herrschaften, sie erhöht die Gefahr.

Die nächsten Vorstellungen von „Intolleranza 1960“ an der Komischen Oper Berlin, Behren-straße 55-57, finden am 29. September, 1. und 3. Oktober statt. Telefon: 030 / 47 99 74 00

 www.komische-oper-berlin.de