© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 40/22 / 30. September 2022

Gegen notorische Geschichtsfälscher
Wiedererwachtes Interesse an einem Totgesagten: Neue Literatur zu Ernst Moritz Arndt
Wolfgang Müller

Am 17. Januar 2018 ging an der Universität Greifswald ein fast 30jähriger Kulturkrieg zu Ende. Der Senat der pommerschen Hochschule stimmte an diesem Tag für einen Kompromißvorschlag zu ihrem künftigen Namen. Demnach solle der seit 1933 verwendete Zusatz Ernst Moritz Arndt im offiziellen Schriftverkehr der schlichten Bezeichnung Universität Greifswald nicht mehr voranstehen. Allen wissenschaftlichen Einrichtungen und jedem einzelnen Dozenten sei es jedoch unbenommen, den Namen des „Sängers der Befreiungskriege“ weiterhin im Briefkopf zu führen. Von der Namensablegung oder Rückbenennung, wie dies in den triumphierenden Medien und der Provinzpresse, hieß, die genau dafür im Schulterschluß mit vielen Professoren und Studenten getrommelt hatten, konnte also keine Rede sein. Die Entscheidung spiegelt eher wider, daß sich die Universität, halbherzig zwar, aber immerhin, noch zu ihrem Namenspatron bekennt.  

In der Öffentlichkeit erschien der Kompromiß trotzdem wie ein später geschichtspolitischer Sieg jener „Arndtgegner“, deren Vorgänger nach der Wiedervereinigung als „Besser-Wessis“ in Greifswald eingezogen waren und die schon in den 1990ern Anstoß an Arndt nahmen, den sie nicht als Vorkämpfer der deutschen Freiheit und Einheit, als Demokraten und Humanisten, sondern nur als „Nationalisten, Fremdenhasser, Antisemiten und Rassisten“ wahrnehmen und auf dem Müllhaufen der Geschichte entsorgen wollten. 

Im Winter 2009/10 strebte der publizistische Krieg um Arndt einer Entscheidungsschlacht zu. Die um Sachargumente verlegene Linke machte wie üblich mit Haß und Hetze mobil, diffamierte mit einem Kommentar in der Studentenpostille Moritz („Willkommen an der Hitler-Universität“) an Arndt als pommersche Identitätsfigur festhaltende Greifswalder Bürger. Sie trieben die Spaltung zwischen Universität, Stadt und Region voran, um im Senat dann doch eine krachende Niederlage zu kassieren, denn dort votierte eine deutliche Mehrheit für die Beibehaltung des Namens. Das ließ die Unterlegenen solange nicht ruhen, bis durch unablässige Wühlerei und Agitation 2018 zumindest der famose „Kompromiß“ erreicht war.

Wieder wurde weltanschaulich ausgebeutet und vereinnahmt

Der Greifswalder Universitätsarchivar Dirk Alvermann hat jetzt einen 2010 an versteckter Stelle publizierten Essay, leicht aktualisiert, wieder drucken lassen, mit dem er sich damals vergeblich bemühte, den politisierten Streit um Arndt zu versachlichen. Der Text, der die giftigsten Anwürfe gegen Arndt, Chauvinismus und Judenfeindschaft, auf ihren Wahrheitsgehalt hin ideologiekritisch durchleuchtet, dokumentiert zugleich – stellvertretend für eine Unzahl ähnlicher erinnerungspolitischer Auseinandersetzungen um „belastete“ Straßenamen oder Denkmäler –  das erschreckend niedrige Niveau, auf dem die geschichtsfälschenden Bilderstürmer der Anti-Arndt-Front agierten, allen voran journalistische Scharfmacher ohne fundierte historische Bildung. Aber auch für den akademischen Part weist Alvermann nach, daß mangelnde Vertrautheit mit dem Leben und Werk Arndts niemanden abhielt, sich als enthemmter Ankläger ins Zeug zu legen. Im Gegenteil: je ahnungsloser einer dieser Polemiker war, desto leichter fiel es ihm, das gewaltige Œuvre einer 65 Jahre währenden Gelehrten- und Schriftstellerexistenz guten Gewissens auf wenige knackige, den bundesdeutschen Moralfuror befeuernde Zitate zu reduzieren. Und damit fortzusetzen, was die Rezeptionsgeschichte Arndts über alle politischen Systeme hinweg, vom Kaiserreich bis zum SED-Staat, kennzeichnet: „Synkretistische Plünderung“ zwecks weltanschaulicher Ausbeutung und Vereinnahmung. Wobei, wie Alvermann zu Recht hervorhebt, solche Praktiken in jüngerer Zeit dadurch begünstigt wurden, daß es seit 1945 kaum mehr eine „irgendwie vernetzte Arndt-Forschung“ gibt und daher bis heute eine Gesamtausgabe seines weitverzweigten Werkes fehlt. Nicht einmal die zu wilhelminischer Zeit kompilierten Editionen enthalten jene Texte, auf denen Alvermanns Exegesen teilweise beruhen. Sie erschienen das erste und letzte Mal zwischen 1845 und 1855, in „E. M. Arndt’s Schriften für und an seine lieben Deutschen“. 

Die Dichotomie von Haß und Liebe wurde für Arndt in der Ära der Befreiungskriege zum Leitmotiv seines politischen Denkens und nationaler Selbstfindung. Den „Volkshaß“, den er gegen die französische Besatzungsherrschaft entfesselte, sei nur aus einer konkreten Freund-Feind-Konstellation zwischen 1806 und 1815 zu verstehen. Ein Phänomen, dem man sich heute, angesichts antirussischer Haßgesänge, die zu Bellizisten mutierte deutsche Intellektuelle und grüne Politiker seit Beginn des Ukraine-Krieges anstimmen, wohl aufgeschlossener gegenüber zeigen würde als noch 2010. Die „Nationalisierung der Feindschaft“ sei zudem keine Erfindung Arndts, sondern eine der Revolutionäre von 1789 gewesen. 

Die Jakobiner hätten 1793/94 den „Volkskrieg“ und den „Volksfeind“ proklamiert. Arndt habe für den Verteidigungskrieg der Deutschen „schlichtweg ein französisches Feindschaftmuster übernommen“, das für deren Angriffskrieg entworfen worden war. Auch fand Arndts „Nationalhaß“, von dem er sich nach 1815 abwendete, stets eine Grenze in seinem christlichen Menschenbild und dem Menschheitspathos der Aufklärung, das den 1769 Geborenen prägte. Ebenso kontextabhängig sei sein „Rassismus“ zu beurteilen. Daß Arndts Invektive gegen Juden oder Warnungen vor „Verbastardung“ ihn keineswegs zum „Vorläufer“ des im Völkermord mündenden NS-Rassenantisemitismus machen, für diesen Befund ruft Alvermann eine exzellente Sachverständige in den Zeugenstand: die deutsch-jüdische Philosophin Hannah Arendt. 

Man mag bedauern, daß im Namensstreit nicht Alvermanns Sachkompetenz, sondern die Zitatenschnipsel einfältiger „Vergangenheitsbewältiger“ obsiegten. Und darf sich doch damit trösten, daß deren Diffamierungen Arndt gut bekommen sind. Denn die endlose Kontroverse entfachte in Vorpommern neues Interesse am „Totgesagten“. Eine von mehreren Früchten dieser Revitalisierung ist ein Sammelband, der Vorträge einer zum 250. Geburtstag ausgerichteten Arndt-Tagung der Historischen Kommission für Pommern vereint. Den Namensstreit läßt der Inhalt weitgehend hinter sich, bis auf die verkürzte Fassung von Alvermanns Essays, eine erfreulich tiefbohrende Analyse des Kirchenhistorikers Irmfried Garbe über „Arndt als Protestant“  und  eine Skizze über „Arndts Haßgesänge“ des Germanisten Gunnar Müller-Waldeck, die leider nur Klischees westdeutscher Nationalismus-Forschung reproduziert. Der Schwerpunkt des Bandes, die Napoleonischen Kriege im Ostseeraum, bietet solide landeshistorische Forschung, die über die regionalen Hintergründe von Arndts Publizistik orientiert.  

Dirk Alvermann, Irmfried Garbe (Hrsg.): Ernst Moritz Arndt in seiner Zeit. Pommern vor, während und nach der napoleonischen Besetzung, Böhlau Verlag, Köln 2021, gebunden, 256 Seiten, Abbildungen, 45 Euro

Dirk Alvermann: Ernst Moritz Arndt. Zeiten & Wandlungen, Karl Lappe Verlag, Greifswald 2020, broschiert, 91 Seiten, 11,90 Euro