© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 40/22 / 30. September 2022

Deutschland immer in Gesamtheit vor Augen
Vor fünfzig Jahren starb der CSU-Politiker Karl Theodor zu Guttenberg / Engagierter Streiter gegen die Ostverträge
Erik Lommatzsch

Eine große Rede war es, die der CSU-Abgeordnete Karl Theodor Freiherr von und zu Guttenberg am 27. Mai 1970 im Deutschen Bundestag hielt. Als Postwurfsendung und als Schallplattenaufnahme wurde sie später verbreitet. Noch einmal sprach er sich vehement gegen die Ostpolitik der seit Oktober 1969 regierenden sozial-liberalen Koalition aus, es war sein großes Thema geworden. Er befürchtete „Unterwerfung unter den Willen der Sowjetmacht“, verwies darauf, daß sich „Vorleistungen und Vorauszahlungen gegenüber totalitären Regimen nie bezahlt machen“ und erklärte hinsichtlich der Bevölkerung der von ihm stets als „Zone“ bezeichneten DDR, „ich brauche nur mein Gewissen, das mir sagt, daß ich als Abgeordneter in diesem Hause Verantwortung für mein ganzes Volk trage“. 

Guttenberg wußte, daß es sein letzter Auftritt vor dem Parlament sein würde. Eine im Vorjahr diagnostizierte unheilbare Krankheit schränkte seine motorischen Fähigkeiten zunehmend ein. Nach Beendigung seiner Rede versagten ihm die Beine den Dienst, es war ihm nicht mehr möglich, selbständig zu seinem Platz zurückzukehren, die Fraktionskollegen Rainer Barzel und Leo Wagner stützten ihn. Das Protokoll vermerkte: „Anhaltender stürmischer Beifall bei der CDU/CSU. – Ein Teil der Abgeordneten der CDU/CSU erhebt sich.“ Guttenberg meinte später, er sei da „wohl nicht so sehr gut von Bord gekommen“ und erklärte, er wisse nicht, was ihn „mehr freuen könnte“ als die Zustimmung aus der Union. 

Breiter Rückhalt war für die Zeit seines parlamentarischen Daseins weniger charakteristisch. Nicht nur beim politischen Gegner, auch in den eigenen Reihen war der verbal angriffslustige Guttenberg, der mitunter eigenmächtig zu agieren wußte, oft auf Widerspruch gestoßen. Der Freiherr, der aus einem der ältesten deutschen Adelsgeschlechter stammte, galt als eitel und arrogant. Sein umfangreicher Besitz sicherte ihm finanzielle Unabhängigkeit. 

Geboren wurde er am 23. Mai 1921 auf Schloß Weisendorf in Oberfranken. Seiner Schulzeit bei den Jesuiten verdankte er nach eigener Aussage seine Fähigkeiten im Disputieren. Als Offizier geriet er 1944 in Gefangenschaft und wurde nach England gebracht. Dem NS-Staat stand die Familie dezidiert ablehnend gegenüber, sein Onkel, der Herausgeber der Weißen Blätter, wurde noch im April 1945 als Angehöriger des Widerstandes hingerichtet. Bei den Briten arbeitete Guttenberg für die BBC und den „Soldatensender Calais“, um deutsche Hörer im Sinne der Alliierten zu beeinflussen. Dem Vorwurf, damit Landesverrat begangen zu haben, sah er sich noch lange nach Kriegsende ausgesetzt. 

Im November 1945 zurückgekehrt, wurde er Mitbegründer der CSU in Stadtsteinach, 1952 erfolgte die Wahl zum Landrat. 1957 wurde er Bundestagsabgeordneter. Als Mitglied des Auswärtigen Ausschusses machte er sich schnell einen Namen. Adenauers Westbindungspolitik vertrat er mit Nachdruck und deutlich mehr als der erste Kanzler hatte er den anderen Teil Deutschlands im Blick, hinsichtlich Selbstbestimmungsrecht und Einheit. Dabei hielt er allerdings stets an einer „Europäisierung“ der Deutschen Frage fest. Daß er im Auftrag Adenauers Ende 1962, nach dem Rücktritt der FDP-Minister im Zuge der „Spiegel-Affäre“, im geheimen mit dem SPD-Politiker Herbert Wehner über die Bildung einer Großen Koalition verhandelte, wurde ihm nicht nur vom CSU-Parteivorsitzenden Franz Josef Strauß übelgenommen. In Wehner, den er mitunter als Freund bezeichnete, glaubte Guttenberg einen politischen Partner erkennen zu können. Eine Große Koalition wurde schließlich 1966 unter dem CDU-Kanzler Kurt Georg Kiesinger gebildet, Guttenberg wurde hier 1967 Parlamentarischer Staatssekretär. Die relativ späte Ernennung war Widerständen in den eigenen Reihen geschuldet. Nach der Bundestagswahl 1969 schließlich formierte Willy Brandt eine SPD-FDP-Regierung, Guttenberg schied aus dem Amt. Im nachhinein stellt sich die von ihm lange hochgehaltene Beziehung zu Wehner als ambivalent dar, die Deutung, daß Wehner sich den CSU-Politiker auch zunutze machte, um der Sozialdemokratie langfristig den Weg ins Kanzleramt zu bahnen, liegt nahe. 

Außenpolitisch war Guttenberg eher Gaullist als Atlantiker

Guttenberg hätte einem Mehrheitswahlrecht den Vorzug gegeben und die französische „Force de frappe“ gern als Kern einer europäischen Atomstreitmacht gesehen. Meinungsführend war er im Lager der „Gaullisten“, derjenigen deutschen Politiker, die eine engere Anlehnung an Frankreich anstrebten. Eine zentrale Rolle spielte er in der „Affäre Huyn“, als 1965 versucht wurde, den in Richtung USA orientierten „Atlantiker“ Gerhard Schröder, CDU-Außenminister unter Ludwig Erhard, aus dem Amt zu drängen. Guttenberg war 1969 entscheidend an der Bildung des „Kleinen Dienstes“ beteiligt, eines Informationsnetzwerkes für die Unionsparteien, dessen bis heute gern hochgespielte Bedeutung als eher gering einzuschätzen ist.

Der CSU-Politiker profilierte sich als konsequenter Gegner einer Verständigung mit der Sowjetunion auf Kosten Deutschlands – das er immer in seiner Gesamtheit vor Augen hatte. Er warnte vor östlicher Koexistenzpropaganda, fürchtete eine Zementierung des Status quo und hielt die Expansionsbestrebungen des Kreml seitens des Westens für unterschätzt. Vom Kommunismus sprach er als Irrlehre, die am gesunden Menschenverstand und der Realität scheitern werde. Zunehmend jedoch sah er sich einer Atmosphäre ausgesetzt, in der nicht diejenigen als die „kalten Krieger“ galten, „die die Mauer gebaut haben“, sondern „die, die von ihr sprechen“. Der Ost-West-Konflikt war ihm kein „Streit zwischen Kapitalismus und Sozialismus“, sondern „die simple Frage nach dem Überleben der Freiheit“.

Am 17. Mai 1972 war er letztmalig im Bundestag. An die Wahlurne zur Abstimmung über die Ratifizierung des Warschauer Vertrages, der die Oder-Neiße-Linie als Grenze de facto festschrieb, sowie des Moskauer Vertrages mußte er im Rollstuhl geschoben werden. Bis auf zehn Abgeordnete, die mit „Nein“ stimmten, darunter Guttenberg, enthielt sich die Unionsfraktion, damit konnten die beiden „Ostverträge“ passieren. Erst kurz zuvor war das konstruktive Mißtrauensvotum gegen Willy Brandt gescheitert.

Guttenberg starb am 4. Oktober 1972 in Stadtsteinach. Seine im Jahr zuvor erschienenen Erinnerungen tragen den Titel „Fußnoten“ – was im Zusammenhang mit dem plagiatsbedingten Rücktritt seines Enkels, der bis 2011 kurzzeitig als Verteidigungsminister amtiert hatte, vom Feuilleton wegen dessen plagiierter Textpassagen, die in keiner ebendieser Fußnoten in seiner Dissertation deutlich gemacht wurden, allzu dankbar aufgegriffen wurde.