© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 40/22 / 30. September 2022

Der Westen braucht einen anderen Blick auf China
Illusionäre Strategien
(dg)

Kurz vor Beginn des russisch-ukrainischen Krieges ließ sich Olaf Scholz im Kanzleramt von vier führenden Rußland-Experten beraten. Im Zentrum des Gesprächs stand jedoch nicht der Truppenaufmarsch an der ukrainischen Grenze, sondern der russische Kolonialismus, Putins Geschichtsbild und der „russische Faschismus“. Das plötzliche Interesse des SPD-Kanzlers an den Schattenseiten Rußlands, auf die gerade die Geladenen jahrelang hingewiesen hatten, habe sie „stark verwundert“. Für die China-Kenner Horst Fabian, bis 2012 Ostasien-Koordinator der damaligen Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit, und Andreas Fulda, der in Nottingham Sinologie lehrt, zeugt diese Episode von „offensichtlichen Lerndefiziten im politischen Berlin“ (Blätter für deutsche und internationale Politik, 8/2022), die sich beim Umgang mit China zu wiederholen drohen, wenn nicht rasch eine Abkehr vom eingefahrenen Kurs erfolge. Die westliche China-Politik, darin unterstützt vom Gros der Chinaforscher, habe bisher mit Blick auf den Primat der Wirtschaft ausgeblendet, daß das Reich der Mitte auch während der Reformphase (1978–2012) ein totalitärer Einparteienstaat geblieben sei. Xi Jinping habe seit 2012 einen neototalitären technologischen Überwachungsstaat ausgebaut, mit dem „Kooperation“ nur zu dessen Bedingungen möglich sei. 


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