© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 40/22 / 30. September 2022

„Es gibt nur ein Gesetz, das heißt Italien!“
Vor hundert Jahren initiierten die Faschisten Mussolinis den „Marsch auf Bozen“ / Startschuß für Unterdrückung der Südtiroler
Paul Leonhard

Am 3. Oktober 1922 titeln die Bozener Nachrichten: „Die Faschisten besetzen das Rathaus von Bozen“. Die Redakteure zeigen sich sichtlich erstaunt, wie unkompliziert diese Machtdemonstration, die an den beiden Vortagen stattgefunden hat, erfolgt war: „Als man im heurigen Sommer gelegentlich der faschistischen Aktion gegen die sozialistischen Gemeindeverwaltungen in Italien las, hatte man die Vorstellung, daß der Einnahme der Rathäuser erbitterte Kämpfe der Angreifer und der Verteidiger vorausgegangen seien“, heißt es in dem Beitrag. Das Bozner Beispiel zeige aber, wie einfach sich der Einzug der Faschisten vollziehe.

Im Herbst 1922 brodelt es in ganz Italien. Immer häufiger liefern sich Faschisten und organisierte sozialistische Arbeiter Straßenschlachten, immer offener greifen die Schwarzhemden nach der Macht. Der Zentralstaat erweist sich als unfähig, ihnen Einhalt zu gebieten oder sympathisiert offen mit den Gewalttaten, insbesondere in den Italien nach dem Ersten Weltkrieg zugesprochenen oder von ihm annektierten Gebieten, wo sich die Faschisten als Beschützer der eingewanderten italienischen Bevölkerung und als Speerspitze der Italienisierung fühlen.

Noch mehr als die Deutschen im italienisch besetzten Südtirol bekommen das die slawischsprachigen Minderheiten in den neuen nordöstlichen Provinzen zu spüren. Gegenüber den Slowenen und Kroaten leben die Schwarzhemden ihr rassistisches Überlegenheitsgefühl aus, wogegen sie mangels Rückhalt in der Bevölkerung gegenüber den Deutschen zurückhaltender agieren. Mussolinis Bewegung hat aus dem „Blutsonntag von Bozen“ gelernt, bei dem am 24. April 1921 über 400 Faschisten einen Trachtenumzug überfallen, den Lehrer Franz Innerhofer ermorden und etwa fünfzig Teilnehmer zum Teil schwer verletzen (JF 17/21). Blieb doch der „erwartete Mobilisierungsimpuls aus, da auch eine Mehrheit der italienischsprachigen Bevölkerung die Tat verurteilte“, wie Stefan Lechner in seinem Werk „Die Eroberung der Fremdstämmigen. Provinzfaschismus in Südtirol 1921–1926“ erläutert.

Deutsche Institutionen waren der Hauptfeind der Faschisten

Hauptfeind der Faschisten im „Alto Adige“ ist nicht die schwache Arbeiterbewegung, sondern der Deutsche Verband, in dem sich die klerikale Tiroler Volkspartei und die Südtiroler Liberalen zusammengeschlossen haben. Nachdem der Faschismus bei seiner von Mussolini persönlich angeordneten „Strafexpedition nach Bozen erstmals seine häßliche Fratze“, so Christian Koller vom Historischen Seminar der Universität Zürich, zeigt, ohne den gewünschten faschistischen Volksaufstand auszulösen, verändern die Schwarzhemden ihre Taktik. Sie versuchen die bürgerlich-liberalen Politiker einzuschüchtern. Im Sommer 1922 erhalten die Meraner Stadtbehörden einen Forderungskatalog. In ihm wird unter anderem verlangt, daß italienische Feiertage einzuhalten und Maßnahmen zur sprachlichen Gleichstellung umzusetzen sind. Der Gemeinderat nimmt das Ultimatum an, während sich die Stadträte in Bozen weigern, ihren erst im Januar wiedergewählten langjährigen Bürgermeister Julius Perathoner – immerhin seit 1895 im Amt – auf Weisung der Faschisten abzusetzen.

Daraufhin wird ein Exempel statuiert. Etwa 3.000 Schwarzhemden aus Oberitalien marschieren am 1. Oktober in der Metropole ein, besetzen im Handstreich die Kaiserin-Elisabeth-Schule in der Sparkassenstraße, die modernste Bildungseinrichtung der Stadt, schicken die rund 700 Schüler und Lehrer nach Hause. Keine Rolle spielt mehr, daß zu diesem Zeitpunkt Bürgermeister Perathoner bereits vom für Bozen zuständigen Zivilkommissar für abgesetzt erklärt ist. Dieser hat am 29. September per Telegramm mitgeteilt, daß das königliche Dekret, das die Wiederwahl Perathoners noch am 14. Juni für rechtens erklärt, widerrufen ist.

Perathoner fühlt sich als Bauernopfer und vermutet angesichts der sich von Monat zu Monat mehrenden „Angriffe, nicht nur der nationalistischen Parteien, sondern auch der Regierung auf unsere kulturellen Interessen, auf unsere Autonomie und auf den Gebrauch der deutschen Sprache, daß die königliche Regierung sich nur durch höhere Rücksichten veranlaßt sah, meine Person auf einem nicht ganz gewöhnlichen Wege zu opfern. Diese höhere Rücksicht mag der Wunsch und die Hoffnung gewesen sein, unsere Stadt vor gewalttätigen Angriffen der Fascisten zu schützen, die einen Staat im Staate Italien bilden und deren Machtmittel nach den Erfahrungen des letzten Jahres grösser zu sein scheinen als die der königlichen Regierung.“

Letztlich ist der Versuch Roms, die Faschisten von weiteren Aktionen in Bozen abzuhalten, vergeblich und die staatliche Zusicherung gegenüber dem Gemeinderat, daß speziell die deutschsprachige Kaiserin-Elisabeth-Schule, die die Bozener Ortsgruppe der Faschisten für die Italiener beansprucht, „den vollen Schutz der öffentlichen staatlichen Gewalt“ genieße – nichts wert.

Mit der Aktion in Bozen hat Mussolini einen seiner fähigsten Männer, Achille Starace, später  Generalsekretärs der faschistischen Partei Italiens und zu diesem Zeitpunkt Delegierter der Veneza Tridentina im faschistischen Zentralkomitee, beauftragt. Dieser plant das Vorgehen einschließlich der einzelnen Stufen der Exkalation sorgfältig. Nach dem die handstreichartige Einnahme der Schule keinerlei Gegenreaktionen bei der Staatsgewalt auslöst, erfolgt einen Tag später die Besetzung des Rathauses, wo am Balkon eine große Trikolore und daneben ein kleines faschistisches Fähnchen befestigt werden. Allerdings gibt es hier nach Angaben der Bozener Nachrichten seitens der Rathauswache acht Leicht- und zwei Schwerverletzte: Auf einen Waffeneinsatz verzichtet das Militär, um Blutvergießen zu verhindern, „weil vor dem Rathause eine große Menge neugieriger Frauen und Kinder angesammelt“ sind. „Wir Südtiroler sind von Kindesbeinen an zur absoluten Hochachtung und Einhaltung der Gesetze erzogen und von der Überzeugung beherrscht, daß nur die Beachtung von Recht und Gesetz die Wohlfahrt der Staaten und Völker auf die Dauer garantieren kann“, heißt es am nächsten Tag im Leitartikel der Bozener Nachrichten: „Wir sehen in einem unserer Nachbarstaaten ein erschreckendes Beispiel vom Verfall des Staatswesens und des öffentlichen Wohles, weil nicht das Gesetz absolute Geltung genießt, sondern der Terror einer politischen Richtung, die Macht der Straße und bestimmter parteimäßiger Organisationen die maßgebende Stellung einnehmen.“ Der faschistische Abgeordnete Alberto De Stefani verkündet: „Es gibt nur ein Gesetz: Es heißt Italien!“ Die Faschisten seien „die wahren Schützer der öffentlichen Ordnung und die Vollstrecker des nationalen Willens, gegen den heute niemand mehr Widerstand leisten kann“.

Umbenennungen machten auch vor Vor- und Familiennamen nicht halt

Die Übernahme der Gewalt in Bozen und weitere Aktionen in Salurn, Neumarkt und Tramin sind für den Historiker Lechner mit der „Abdankung des italienischen Staates in Südtirol“ gleichzusetzen. Insofern sei der „Marsch auf Bozen“ eine Vorwegnahme des spektakulären „Marschs auf Rom“ Ende Oktober, der zur faschistischen Machtübernahme in Italien führt. Perathoner prophezeit: „Wenn nicht alle Anzeichen trügen, geht die deutsche Bevölkerung der Stadt Bozen sehr trüben Zeiten entgegen.“

Unter der faschistischen Regierung wurde in den folgenden Jahren eine vollständige Assimilation der deutsch- und ladinischsprachigen Südtiroler in den Blick genommen. Dazu sollte durch gezielte Zuwanderung von Italienern nach Südtirol eine allmähliche Majorisierung angestrebt werden. Bis in die sechziger Jahre ist Rom diesem Ziel bedeutsam näher gekommen, von einem italienischen Bevölkerungsanteil von 2,9 Prozent 1910 konnte der Anteil der Italiener in Südtirol auf 34,3 Prozent im Jahr 1961 gesteigert werden. Ab 1923 wurden über 12.000 deutsche Orts- und Flurnamen durch italienische ersetzt, gleichzeitig wurde der Schulunterricht in deutscher Sprache abgeschafft (lex Gentile), der daraufhin organisierte Privatunterricht in sogenannten Katakombenschulen wurde strafrechtlich verfolgt. Am 1. März 1924 wurde Italienisch als alleinige Amts- und Gerichtssprache eingeführt und die einheimischen deutschsprachigen Beamten, insbesondere das Verwaltungspersonal, größtenteils entlassen.

Die Italienisierung machte selbst vor dem Privatesten nicht Halt. Ab 1926 wurden deutsche Rufnamen italianisiert (aus Josef wurde Giuseppe, aus Franz Francesco), selbst deutsche Familiennamen wurden romanisiert (Müller zu Molinari), deutsche Inschriften auf Grabsteinen wurden verboten. Südtiroler, die gegen diese Maßnahmen Widerstand leisteten, wurden verfolgt und inhaftiert oder ausgewiesen. Als optische Unterstreichung der Landnahme Roms bis zum Brenner diente auch die faschistische Architektur und Denkmalpolitik. Am 12. Juli 1928 wurde als heute signifikantestes Bauwerk das Siegesdenkmal in Bozen in einem aufwendigen Staatsakt feierlich eingeweiht, das sogar heute noch von der „unverbrüchlichen Einheit von Nation und Faschismus“ kündet.

An den Marsch auf Bozen wird erst seit zehn Jahren mit einer offiziellen Gedenkfeier kritisch erinnert. Allerdings ziert das 1922 besetzte deutsche Schulgebäude noch immer ein faschistisches Symbol: Über dem Wappen der Gemeinde Bozen befindet sich der fünfzackige Stern der Savoyer.

Foto: Talferbrücke und faschistisches Siegesdenkmal in Bozen: Für eine vollständige Italienisierung der deutsch- und ladinischsprachigen Südtiroler