© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 40/22 / 30. September 2022

Der Flaneur
Zeit der Brombeeren
Paul Leonhard

Die Zeit der Brombeeren ist schon wieder fast vorbei. Noch leuchten einige groß und rot von den Büschen, aber die meisten sind klein, dunkelschwarz, vertrocknet. Es war kein gutes Erntejahr. Bist zuletzt hatte ich auf eine richtig schöne Regennacht gewartet, um am anderen Morgen die noch nassen Früchte pflücken zu können. Vergeblich. 

Dabei hatte es so hoffnungsvoll angefangen. Anfang August war ich mit den Kindern zum ersten Mal auf Ernte gegangen. Die hatten schnell gelernt, wie die Beeren aussehen müssen, damit sie richtig lecker süß schmecken und nicht nur nach Fruchtsäure: rundherum schwarz, nicht etwa mit ein paar roten Anteilen, aber auch nicht so weich, daß sie bereits beim Pflücken in ihre Einzelteile zerfallen und nur rote Saftspuren auf den Fingern hinterlassen.

Schon beim ersten Recken und Strecken spürte ich 

die spitzen Stacheln in meinem Unterarm

Diese hatten die Kinder anfangs irritiert. Bluteten sie etwa? Aber es ließ sich zur ihrer Erleichterung einfach ablecken. Vor den Stacheln hatte ich sie vorsorglich gewarnt. Und mit spitzen Fingern tasteten sie nur nach den für sie erreichbaren. Diese lagen zum Teil unter meinem Radar, verborgen unter dem Blätterdickicht der Ranken, aber für kleine Kinder leicht erspähbar. Ich schaute dagegen verträumt in die Tiefen der gewiss über vier Meter hohen Pflanzen, die sich sogar an einigen Bäumen heraufgezogen hatten. 

Da leuchteten sie, bestimmt drei Zentimeter große Früchte, überreif lockten sie: Komm pflücke uns. Ich konnte sie schon schmecken, hatte aber keine Chance. Schon beim ersten Recken und Strecken spürte ich die spitzen Stacheln am Unterarm. Von unten bohrten sich weitere durch die Sohlen. Überdies erwies sich der gesamte Untergrund als abgängig und viel fehlte nicht, ich wäre in dem Dornstrauch verschwunden, wie all jene Ritter, die an Dornröschens Erweckung in der Rosenhecke scheiterten, obwohl mein Begehr doch bloß die großen Kratzbeeren waren.

Die Kinder schauten gerade zu verzückt, wie ihr Vater fluchte und sich wand. Sie hatten den Mund voll und die Sachen verschmiert. Auf letzteres war ich vorbereitet. Zitronensaft oder Essig und dann heißes Wasser lassen die Saftspuren verschwinden. Für meine zerkratzten Arme hatte meine Frau nur ein müdes Lächeln übrig. Ich sei zu gierig gewesen, pflücken sollte ich, nicht ernten.