© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 40/22 / 30. September 2022

Nichts für Schneeflöckchen
Richard Girlings Buch über die schonungslose Beziehungsgeschichte zwischen Mensch und Tier
Dieter Menke

Einem Report des World Wildlife Fund for Nature (WWF) zufolge ist die globale Population von Wildtieren – Säugetieren, Vögeln, Fischen, Amphibien – seit 1970 um mehr als zwei Drittel geschrumpft. Keine Statistik belegt anschaulicher, daß die Beziehungsgeschichte zwischen Mensch und Tier, die Richard Girling in seinem neuen Buch von der Altsteinzeit bis zur Gegenwart erzählt, für den unterlegenen Teil unglücklich verlaufen ist. Die Rollen von Sieger und Verlierer seien schon vor drei Millionen Jahren festgeschrieben worden, als der Affenmensch (Australopithecus africanus) den Urwald verließ, um in den weiten Steppenlandschaften Südostafrikas zu jagen.

Aus urgeschichtlichen Jagderfolgen habe sich alles ergeben, „was wir heute als selbstverständlich hinnehmen: Die Jagd schenkte uns die Zweifüßigkeit und die Werkzeuge, sie legte damit ein für allemal die Richtung der Evolution fest“, so der 77jährige britische Biologe und Umweltaktivist. Aus ihr entwickelten sich Sprache, Religion, Kernfamilie, und aus ihr erkläre sich die Grausamkeit des fleischfressenden Zweibeiners, wie sie eine endlose Kette von Kriegen bis in unsere Tage bezeuge. Die Jagd-Hypothese ist zwar durch fossile Relikte relativiert worden, die darauf deuten, daß der Homo sapiens seine Karriere als Aasfresser begann, bevor er zum Jäger und Sammler mutierte. Aber in Kraft blieb die Praxis, mit Tieren beliebig zu verfahren, denn sie sind für den Menschen nichts als Beute.

„Machet euch die Erde untertan, herrschet über alles Getier“

Der griechische Philosoph Pythagoras nahm zwar schon in der Antike Charles Darwin vorweg, indem er die universale Verwandtschaft allen Lebens lehrte, so daß es sich für ihn verbot, Tiere zu verzehren. Außerdem war er davon überzeugt, wer grausam zu Tieren sei, habe ebenso wenige Hemmungen, seine Mitmenschen zu malträtieren und zu töten. Das war eine „Einzelmeinung“. Ausgerechnet die Religion der Liebe, das Christentum, formulierte das drastisch: „Füllet die Erde und machet sie euch untertan und herrschet über […] alles Getier, das auf Erden kriecht“. Die Bibel erlaubt, Tiere mitleidlos zu töten oder zu quälen, da sie, so war der Kirchenvater Augustinus überzeugt, vernunftlose Lebewesen seien. Das Gebot „Du sollst nicht töten“ befehle nur, keinen Menschen zu töten – „allen anderen Lebewesen kannst du antun, was du willst“.

Erst seit dem späten 17. Jahrhundert setzt sich – zunächst in elitären Kreisen – die Überzeugung durch, die Welt sei nicht exklusiv für den Menschen geschaffen. John Locke knüpft an Pythagoras an, wenn er behauptet, die Gewohnheit, Tiere zu töten, mache Menschen gegen ihresgleichen gefühllos. Im Zeitalter der Entdeckungen wirkte die europäische Kolonisierung Amerikas, Afrikas, Mittel- und Südostasiens wie eine Bestätigung Lockes. Eroberte Völker wurden wie Tiere als Sachen behandelt und waren nie Gegenstand moralischer Skrupel. Im globalen Süden versklavte Menschen hätten sich, wie Girling sarkastisch anmerkt, nur in einer Hinsicht etwa vom Pferd unterschieden: nach ihrem Tod seien sie nicht zu Katzenfutter verarbeitet worden.

Kurz vor der Französischen Revolution nahm die Zahl der „Tieranwälte“ zu. So übte der schottische Aufklärer David Hume harte Kritik am kirchlich zementierten Dogma vom Vorherrschaftsrecht des Menschen, weil er denselben allgemeinen Gesetzen der Materie und der Bewegung unterworfen ist wie alle anderen Lebewesen. Aus kosmischer Perspektive betrachtet, habe sein Leben daher keine größere Bedeutung als das einer Auster. Solche Umwertungen bereiteten den Boden für die Pioniere des Vegetarismus und der Tierschutzbewegung. 1824 gründeten Sozialreformer in London die „Gesellschaft zur Verhinderung der Grausamkeit gegen Tiere“. Gleichzeitig warf der englische Romantiker Percy Bysshe Shelley seinen Dichterruhm in die Waagschale und prangerte den Fleischverzehr als Wurzel aller Übel der Menschheit an.

Die Freunde fleischloser Ernährungsweise umwehte zwar weiter das Odium des Sektierertums, doch von ihrer sozialen Isolierung konnte nach der Gründung der ersten vegetarischen Gesellschaften in Großbritannien (1847) und in den USA (1850) keine Rede mehr sein. Tierschützer und Vegetarier sorgten zudem dafür, daß der Kampf gegen die Vivisektion, die Myriaden von Labortieren, Mäuse, Frösche, Katzen, Hunde, zu „Märtyrern der Wissenschaft“ degradierte, zur mächtigen politischen Bewegung anschwoll. 1876 endeten deren Kampagnen mit einem Teilerfolg, als das britische Parlament das weltweit erste Gesetz verabschiedete, das Vivisektion nicht ganz verbot, sie jedoch einschränkte. Die USA zogen nach: Bis 1888 hatte nur noch Maryland als einziger der damals 38 Bundesstaaten kein Gesetz gegen die grausame Behandlung von Tieren (Anti-Cruelty Laws) verabschiedet.

Eine Tendenzwende kündigt sich bei Girling damit nicht an. Das Gebot „Macht euch die Erde untertan“ blieb auch in der Epoche des – von ihm übrigens nie thematisierten, geschweige denn analysierten – globalisierten kapitalistischen Produktionsregimes der kategorische Imperativ. Die Kapitel der zweiten, von der Hochzeit des Imperialismus bis zur Gegenwart führenden Hälfte dieses faktensatten Werkes sind daher nichts für Leser mit schwachen Nerven.

Bevölkerungsexplosion vernichtet die natürlichen Lebensräume

Sie schildern, wie Großwildjäger die Populationen von Elefant, Nashorn, Löwe & Co. an den Rand des Zusammenbruchs schießen. Wie überdies die unersättliche Nachfrage von Museen und Zoos nach toten und lebenden Tieren die Bestände dezimiert. Wie der chemische Krieg gegen die Insektenwelt der USA erst in den 1960ern gestoppt werden konnte, während die in den Weltmeeren an Walen verübten Massaker sogar noch bis 1982 anhielten. Ebenfalls zu dieser Horrorbilanz rechnet der Autor die Opfer der Massentierhaltung einer industrialisierten Landwirtschaft.

Nur im Epilog tippt Girlings so schockierende wie deprimierende Kulturgeschichte akute Bedrohungen der Tierwelt durch ungebremst fortschreitende Vermüllung der Ozeane, Abholzung der Regenwälder und die von der Bevölkerungsexplosion im globalen Süden befeuerte Besiedlung ihrer natürlichen Lebensräume an. Der Autor kommentiert hierzu resignativ, daß – erwartungsgemäß – nicht ein einziges der von der Uno proklamierten globalen Ziele zum Schutz von Wildtierlebensräumen und Ökosystemen erreicht worden ist. Was niemanden wundern müsse, denn solche hehren Vorgaben wirkten wie Versprechen zum Verzicht auf Kriminalität, die von allen außer den Kriminellen abgegeben würden.

Richard Girling: Der Mensch und das Biest. Eine Geschichte von Herrschaft und Unterdrückung. Rowohlt Verlag, Berlin 2021, gebunden, 510 Seiten, 26 Euro