© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 41/22 / 07. Oktober 2022

Warte, warte nur ein Weilchen
Landtagswahl: In Niedersachsen zeichnet sich der Wechsel zu einer rot-grünen Koalition ab
Christian Vollradt

Wenn am kommenden Sonntag um 18 Uhr die Wahllokale in Niedersachsen schließen, dürfte sich ein Regierungswechsel ankündigen, ein Wechsel an der Spitze der Hannoveraner Staatskanzlei jedoch eher unwahrscheinlich sein. Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) kann dann, sollten die Ergebnisse den Umfragewerten gleichen, der erste Landesvater seit Ernst Albrecht (CDU) werden, der eine dritte Amtszeit antritt. Den Sozialdemokraten sagen die Demoskopen einen Vorsprung vor dem Noch-Koalitionspartner CDU voraus. 

Daß es dann ein rot-grünes Bündnis gibt, mit dem Weil bereits in seiner ersten Amtszeit von 2013 bis 2017 regierte, gilt als nahezu ausgemacht. Die Grünen haben zwar zuletzt etwas geschwächelt und liegen nicht mehr bei über 20 Prozent, doch die 16 Prozent in der letzten Umfrage vor dem Urnengang bedeuten immer noch eine Verdoppelung ihres Ergebnisses von vor fünf Jahren. Und in Niedersachsen wird die Partei, die hier deutlich weiter links steht (JF 40/22), nicht so schnell auf schwarz-grüne Avancen eingehen wie in den Nachbarländern Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen.

Daß Weils SPD entgegen dem Bundestrend vor der CDU führt, liegt zu einem guten Teil auch am Regierungschef selbst, der mit seiner ruhigen Art und seinem geräuschlosen Führungsstil durchaus auch bei Leuten ankommt, die sonst nicht mit den Roten sympathisieren. Dabei hat die Landesregierung in der Corona-Krise einige gravierende Fehlleistungen offenbart. Mehrmals kassierten Gerichte ihre Verordnungen. Zufrieden mit der Arbeit von Rot-Schwarz waren im vergangenen Monat nur noch 44 Prozent, vor einem halben Jahr hatte der Wert noch bei 56 Prozent Zufriedenen gelegen. 

Thematisch wühlt die Wähler derzeit besonders auf, was eher bundespolitisch entschieden werden muß: Inflation und Preissteigerungen sowie die Krise der Energieversorgung. Daneben spielt bei den Landesthemen die Schulpolitik (die schlechte Unterrichtsversorgung) eine größere Rolle. Die Sorgen der Landwirte im immer noch stark agrarisch geprägten Niedersachsen dürften mit einem Koalitionswechsel Richtung Grüne eher zu- als abnehmen. 

Für CDU-Spitzenkandidat Bernd Althusmann könnte die Wahl einen Karriereknick bedeuten. Daß Niedersachsen wirtschaftlich einigermaßen gut dasteht, wird ihm als zuständigem Minister nur in Teilen auf der politischen Habenseite angerechnet. Für die Grünen machte ihn auch nicht attraktiver, daß er ihr Quotensystem bei der Landesliste quasi kopierte und abwechselnd Männer und Frauen aufstellen ließ. Und auch sein Versuch, im Wahlkampf fast wie ein Oppositionsführer zu reden, dürfte nicht von Erfolg gekrönt sein. Die FDP, die mit der Union bis 2013 noch zusammen regiert hatte, kommt als Koalitionspartner mangels Masse nicht in Frage. Die in Berlin mitregierende Partei lag in den Umfragen zuletzt bei nur noch 5 Prozent und muß um den Wiedereinzug zittern. 

Die Liberalen setzen im Endspurt auf alles und betreiben eine Zweitstimmenkampagne zu Lasten der CDU. Motto: Die Schwarzen werden eh nicht den Ministerpräsidenten stellen. Spitzenkandidat Stefan Birkner, einst Umweltminister in Hannover, warb zudem – genauso wie die AfD – vehement für Kernenergie und den Weiterbetrieb der Atomkraftwerke, von denen eines im Land, Grohnde, jüngst vom Netz genommen wurde. Ironie am Rande: Birkner ist Schwippschwager des Grünen Robert Habeck. 

Mit einer gewissen Sorge schaute man noch vor einem halben Jahr in der AfD auf diese Landtagswahl. Im Westen schwächelte die Partei ohnehin, aber besonders der niedersächsische Landesverband hatte in der Vergangenheit vor allem mit internen Verwerfungen und heftigen Streitereien von sich reden gemacht. 2020 zerfiel durch Austritt die Fraktion, das kostete Redezeit, außerdem mußten die Mitarbeiter entlassen werden. Dabei war man im Landtag 2017 geräuschlos und moderat mit Sachpolitik gestartet. Die Lagerkämpfe der Partei konnten da noch herausgehalten werden. Für den Zerfall seien mehr persönliche Animositäten als politische Differenzen ausschlaggebend gewesen, heißt es in der Partei. Für Schlagzeilen sorgte zuletzt das Hin und Her bei der Aufstellung der Landesliste, deren Rechtmäßigkeit vom vorigen Landesvorstand noch in Zweifel gezogen worden war. 

Mittlerweile ist – vorerst – wieder Ruhe eingekehrt, hinter den Kulissen war vor dem jüngsten Parteitag an einer Art innerparteilichem Waffenstillstandsabkommen getüftelt worden. Das funktionierte vor allem, weil es dem neuen Landesvorsitzenden, Frank Rinck, und seinen Mitstreitern gelungen war, einzelne Leute aus dem Lager des einstigen „Flügels“ zu sich herüberzuholen. Ein übriges zur Beruhigung trug die Tatsache bei, daß sich der AfD-Spitzenkandidat und landespolitische Neuling Stefan Marzischewski-Drewes aus den Lagerkämpfen herausgehalten hatte und daher als unverbrauchtes Gesicht gilt (siehe Interview unten).

Wiedereinzug der FDP ist nicht sicher

Während die FDP vor der Fünfprozenthürde zittern muß, ist für die Linkspartei das Rennen aller Wahrscheinlichkeit nach schon gelaufen. Zwischen 2008 und 2013 saß sie im Leineschloß, die folgenden Legislaturperioden schaffte sie den Einzug nicht mehr. Und mit drei Prozent in den Umfragen werden die Linksaußen auch diesmal außerparlamentarische Oppostion bleiben. Daran ändert auch nichts, daß die Partei den Anspruch erhebt, sie sei „die wahre Protestpartei und nicht die rechten Rattenfänger“. Als chancenlos gelten auch die „kleinen“ Parteien, die am Sonntag antreten: die Piraten genauso wie die aus der Protestbewegung gegen die Corona-Maßnahmen hervorgegangene Partei „die Basis“; die Spaßtruppe „Die Partei“, die sich für eine Bierpreisbremse und die Umbenennung des Bundeslandes (wegen des „-sachsen“ im Namen) einsetzt, die Tierschutzpartei oder auch die Freien Wähler; die europaeuphorische Bewegung Volt, die Partei der Humanisten oder die Partei der Gesundheitsforschung, die sich dafür einsetzen will, daß Menschen Tausende Jahre leben können.

Die Listen von Bündnis C sowie der Zentrumspartei, in die der frühere AfD-Vorsitzende Jörg Meuthen eingetreten war, brachten nicht genügend Unterstützerunterschriften zusammen, um antreten zu dürfen. Beide Parteien treten nur mit jeweils einem Kreiswahlvorschlag an. Nicht angetreten sind auch die Liberal-Konservativen Reformer, die in der noch laufenden Legislaturperiode nach dem Zerfall der AfD-Fraktion zeitweise zwei Abgeordnete stellten. 

Wo am Sonntag abend die Sektkorken knallen, die Arme jubelnd in die Höhe gerissen werden oder die Mundwinkel nach unten zeigen, liegt in der Hand derjenigen der knapp 6,1 Millionen Wahlberechtigten, die bis dahin ihre Stimme abgegeben haben.