© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 41/22 / 07. Oktober 2022

Ländersache: Berlin
Nur die Spitze des Eisbergs?
Jörg Kürschner

Seit der Abgeordnetenhauswahl im September 2021 verharrt die Hauptstadt-SPD im Schockzustand: Nach anhaltend miserablen Umfragen muß sie jetzt um ihre jahrzehntelange Machtbastion im Roten Rathaus fürchten. Der Verfassungsgerichtshof erwägt wegen der Schlampereien in Berliner Wahllokalen eine komplette Wiederholung des Urnengangs. Erwartet worden war nur eine teilweise Annullierung der Wahl. Die neun Richter müssen bis zum Jahresende ihr endgültiges Urteil fällen, die Neuwahl des Abgeordnetenhauses würde bis spätestens Ende März 2023 über die Bühne gehen. Die vom Parlament verabschiedeten Gesetze blieben aber gültig. Der neue Wahlleiter hat bereits Papier für die Wahlunterlagen bestellt. 

Gerichtspräsidentin Ludgera Seltings einleitende Erklärung geriet zu einer scharfen Abrechnung mit der Innenverwaltung des Senators Andreas Geisel (SPD), der jetzt das Bauressort leitet. „Es sind schwerwiegende Wahlfehler aufgetreten, von denen nur die Spitze des Eisbergs dokumentiert wurde.“ 350 Stunden seien Wahllokale nach 18 Uhr geöffnet, andere wegen fehlender Stimmzettel 83 Stunden geschlossen gewesen, rügte Selting, die 2019 auf Vorschlag der SPD in das hohe Amt gewählt wurde. Das Gericht hatte die Protokolle aus allen 2.256 Wahllokalen ausgewertet. Der Anwalt der Innenverwaltung, Ulrich Karpenstein, hielt dem Gericht vor, sich gegen die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu stellen.

Damit war der rot-rot-grüne Senat mit seinem Versuch gescheitert, das Wahlchaos kleinzurechnen. Es sollte nur in 14 Wahllokalen in drei Bezirken neu gewählt werden. Den von CDU, AfD und FDP geforderten Rücktritt lehnte Geisel, einst Mitglied der DDR-Staatspartei SED, erwartungsgemäß ab. Denn ein solches Schuldeingeständnis hätte die Nervosität in der SPD noch erhöht. Die Sorge ist groß, die Regierende Bürgermeisterin, Franziska Giffey, könnte ihr Amt nach gerade einem Jahr im Roten Rathaus verlieren. Liegt doch ihre SPD in Umfragen beständig hinter ihrem Grünen Koalitionspartner und zuletzt auch hinter der CDU. Daß die Verantwortung für die Pannenwahl allein der Dauer-Regierungspartei SPD zugeschrieben wird, dürften die Wahlkampfstrategen wissen.

Wohl mit Blick auf mögliche Koalitionsoptionen nach einer Neuwahl reagierte die stärkste Oppositionspartei moderat auf die Vollklatsche für den Senat. „Von Freude kann keine Rede sein“, säuselte CDU-Landeschef Kai Wegner während einer Podiumsdiskussion mit Giffey, wohl wissend, daß sich diese einen Amtsbonus bisher nicht hat erarbeiten können. Staatsmännisch gab sich AfD-Fraktions- und Landeschefin Kristin Brinker, die einen Antrag auf Wahlwiederholung gestellt hatte. „Dies ist ein sehr guter Tag für die Demokratie.“ Sie nehme das Ergebnis dankbar und demütig an. Giffeys Koalitionspartner Grüne und Linke hingegen nahmen kein Blatt vor den Mund. Der Wahlkampf läßt grüßen. Von einer „kompletten Klatsche für den damaligen Innensenator“ sprachen die Linken, die Grünen befanden, „ein miserableres Zeugnis“ habe das Gericht kaum ausstellen können.