© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 41/22 / 07. Oktober 2022

Vom Staat enttäuscht
Bericht des Ostbeauftragten: Kritik am System ist nicht auf die neuen Länder beschränkt
Björn Harms

Auch drei Jahrzehnte nach der deutschen Einheit sind die politischen Unterschiede zwischen Ost und West weiterhin spürbar. Vergangene Woche hat der gebürtige Erfurter Carsten Schneider (SPD) in seiner Funktion als Ostbeauftragter der Bundesregierung einen neuen Bericht vorgestellt, der jene Mentalitätsunterschiede genauer herausarbeiten sollte. Unter dem Titel „Ostdeutschland. Ein neuer Blick“ verspricht der SPD-Bundestagsabgeordnete ein „differenziertes, individuelles Bild“.

Wie sich Schneider die künftig blühenden Landschaften in Ostdeutschland vorstellt, erklärt er gleich im Vorwort: „Ostdeutschland muß eine moderne Einwanderungsregion sein.“ Der Kampf für „Vielfalt, Toleranz und Demokratie“ werde „mit darüber entscheiden, ob der Osten eine Zukunftsregion bleibt“. Anschließend präsentieren 16 linke bis linksliberale Autoren, Sozialwissenschaftler und Kulturschaffende ihr „individuelles Bild“ vom Osten. So darf auch die junge Chemnitzer Sängerin Nina Kummer in einer vom Bund herausgegebenen Broschüre von ihren früheren Antifa-Demonstrationen träumen: „Da standen wir, riefen ‘Nazis raus’ und kritisierten die Polizei, die entweder mit dem Rücken zu den Faschos stand oder uns brutal aus Sitzblockaden rausprügelte. Ich habe gecheckt, daß die Polizei völlig unverhältnismäßig gegen linke Demonstrantinnen und Demonstranten vorging, während ‘besorgte Bürger’ mit Samthandschuhen angefaßt wurden.“

Vor allem viele Jüngere ballen die Faust in der Tasche

Spannend an dem Bericht ist vor allem eine repräsentative Umfrage, die sich unterschiedlichsten Themen widmet: Wie zufrieden sind die Menschen? Welche Hoffnungen und Ängste tragen sie in sich? Wie bewerten sie Themen wie Zuwanderung, Corona oder Ukraine-Krieg? Für die Untersuchung wurden in der Zeit vom 26. Juli bis zum 15. August knapp 4.000 Personen in Ost und West befragt. Die Ergebnisse sind alarmierend: Mit der Demokratie, so wie sie in Deutschland funktioniert, sind derzeit nur noch 39 Prozent der Ostdeutschen zufrieden (2020: 48 Prozent). Im Westen sind es immerhin noch 59 Prozent (2020: 65 Prozent). Auch in Sachen Meinungsfreiheit sieht es schlecht aus: Nur noch 43 Prozent (2020: 50 Prozent) der Ost- und 58 Prozent (2020: 63 Prozent) der Westdeutschen glauben, daß man in Deutschland seine Meinung „immer frei äußern kann, ohne Ärger zu bekommen“.

Aus den Antworten zu Politikfragen haben die verantwortlichen Meinungsforscher Holger Liljeberg und Sindy Krambeer vier gesellschaftliche Cluster gebildet. Sie teilen ein in die Kategorien „offen und liberal“, „kleinbürgerlich-konservativ“, „angepaßte Skeptiker“ und „verdrossene Populisten“. Gerade die beiden letztgenannten Gruppen würden sich zunehmend vom Staat abwenden. Bei den „verdrossenen Populisten“ sitzt die Frustration derart tief, daß dieses Milieu für politische Angebote kaum noch erreichbar ist. Im Osten machen sie rund 35 Prozent der Befragten aus (2020: 27 Prozent), im Westen knapp 18 Prozent (14 Prozent). Sie alle „plädieren fast durchgängig für den Mut zu einem starken Nationalgefühl, sind mit der Demokratie in Deutschland extrem unzufrieden, fühlen sich vor Kriminalität nicht geschützt und in ihrer freien Meinungsäußerung extrem eingeschränkt, stehen der Europäischen Union und ihren Ideen deutlich ablehnend gegenüber, empfinden die Zuwanderung von Menschen aus dem Ausland ausdrücklich nicht als Bereicherung und glauben ganz überwiegend nicht, daß den Politikern das Wohl des Landes sehr wichtig ist“, schreiben die Wissenschaftler. Es handelt sich vor allem um Personen der mittleren Altersgruppen mit formal niedriger Bildung und niedrigem Einkommen. Sie bilden die Speerspitze der Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen und lehnen Sanktionen gegen Rußland überwiegend ab.

Das „offen-liberale“ und das „kleinbürgerlich-konservative“ Cluster hingegen, von denen beide „derzeit in keinem Konflikt mit der Gesellschaft“ stünden, könnten in naher Zukunft weiter schrumpfen. „Offen und liberal“ zeigen sich in Ostdeutschland nur noch 15 Prozent der Bevölkerung (2020: 20 Prozent), im Westen liegt der Anteil bei 26 Prozent (2020: 31 Prozent). Diese Leute sind „mit der Demokratie in Deutschland sehr zufrieden, fühlen sich vor Kriminalität geschützt und in ihrer freien Meinungsäußerung nicht eingeschränkt“. Zuwanderung empfänden sie als Bereicherung.

Vor allem aber das „kleinbürgerlich-konservative“ Milieu, das einen „besonders hohen Anteil unter älteren Befragten“ habe, auf die Jugend aber immer weniger anziehend wirke, fällt derzeit in sich zusammen. Während 2020 noch 34 Prozent aller Ost-Befragten in diese Kategorie fielen, sind es zwei Jahre später nur noch 24 Prozent. Im Westen sieht es nicht besser aus. Hier fiel die Zahl von 31 Prozent auf 24 Prozent. Davon profitieren die zwei anderen Milieus, die sich vom politischen System zunehmend entfernen. Neben den „verdrossenen Populisten“ sind dies die „angepaßten Skeptiker“, die im Westen 32 Prozent der Befragten ausmachen (2020: 25 Prozent), im Osten 26 Prozent (2020: 19 Prozent). Auch dieses Milieu hat kaum Vertrauen in die Politiker, sei aber immerhin noch ansprechbar, heißt es in der Studie. 

Was „angepaßter Skeptiker“ genau meint, zeigt ein konkretes Beispiel: Rund 40 Prozent dieser Gruppe haben Verständnis für Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen der Regierung, aber nur acht Prozent können sich tatsächlich vorstellen, selbst an einem solchen Protest teilzunehmen. Sie ballen die Faust in der Tasche. Auffällig ist vor allem der hohe Anteil junger Menschen. Ganze 40 Prozent der unter 30jährigen in Deutschland fallen in diese Kategorie.

Foto: Demonstration in Cottbus am Tag der Deutschen Einheit: So frustriert, daß sie kaum noch für politische Angebote erreichbar sind