© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 41/22 / 07. Oktober 2022

„Das können wir uns nicht leisten“
Demonstrationen: In Ostdeutschland gehen Tausende aus Protest gegen steigende Energiepreise auf die Straße / Hilferufe aus der Wirtschaft
Vincent Steinkohl

Noch scheint der Winter fern, doch schon jetzt treiben existentielle Sorge und Wut angesichts rasant steigender Lebenshaltungskosten und grassierender Inflation viele Menschen auf die Straße. Wie schon bei vorangegangenen Krisen, etwa in der Asyl- und der Coronapolitik, bildet Ostdeutschland das Epizentrum der Proteste. Mit Transparenten, Trillerpfeifen und Trommeln forderten die Teilnehmer der Demonstrationen und Protestzüge die Inbetriebnahme von Nord Stream 2, den Stopp der Waffenlieferungen für die Ukraine und effektive Maßnahmen zur Bekämpfung der Inflation. Manche gingen noch weiter und verlangten Friedensverhandlungen mit Rußland und den Rücktritt der Bundesregierung. 

Am vergangenen Wochenende sowie am Tag der Deutschen Einheit ergab sich an mehreren Orten in den neuen Bundesländern ein ähnliches Bild. Allein in Gera trieb es rund 10.000 Demonstranten auf die Straße, Leipzig verzeichnete etwa 3.000 Unzufriedene, in Magdeburg waren es laut Polizeiangaben rund 2.700, in Frankfurt (Oder) rund 2.000. Verteilt auf insgesamt 15 Städte waren zudem in ganz Mecklenburg-Vorpommern rund 7.000 Personen unterwegs, die ihrem Ärger Luft machten. 

Doch nicht nur auf der Straße, auch in der Wirtschaft wächst die Kritik am energiepolitischen Handeln der Bundesregierung. Vertreter der Tiefkühl- und Frischewirtschaft schlagen Alarm: Ein an Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), Wirtschaftsminister Robert Habeck und Landwirtschaftsminister Cem Özdemir (beide Grüne) adressierter offener Brief auf Initiative des Deutschen Tiefkühlinstituts und des Verbands Deutscher Kühlhäuser und Kühllogistikunternehmen attestiert der Branche, sich in der „schwersten Krise seit Ende des Zweiten Weltkrieges“ zu befinden, und beklagt die mangelnde Unterstützung von seiten der Bundesregierung. Sollten keine schnellen und unbürokratischen Finanzhilfen kommen, drohten „erhebliche Versorgungslücken bei der täglichen Lebensmittelversorgung der Menschen in Deutschland“. 

In der niedersächsischen Landeshauptstadt Hannover zogen unlängst zahlreiche Bäcker vors Rathaus, um auf ihre Situation aufmerksam zu machen und Unterstützung für ihre Zunft einzufordern. Die Betreiber der Bäckerei-Kette „Calenberger Backstube“, die Brüder Axel und Kai Oppenborn, hatten per Videobotschaft im Internet dazu aufgerufen. Axel Oppenborn gab darin einen konkreten Einblick in die finanziellen Herausforderungen seines Betriebs. Mit Blick auf die Energiekosten sagte er: „Bisher waren wir bei 360.000 Euro. Jetzt bezahlen wir 1,4 Millionen Euro, und das können wir uns nicht leisten.“ 

„Versorgungslücke bei Brot und Backwaren“

Doch nicht nur die Wirtschaft ist von der aktuellen Situation betroffen: Der Verband der Kleinen und Mittelgroßen Kitaträger in Berlin sieht viele seiner Einrichtungen in der Bredouille. Neben dem seit Jahren grassierenden Fachkräftemangel treiben auch die steigenden Kosten für Lebensmittel und Energie Branchenvertretern Sorgenfalten ins Gesicht. Der Berliner Geschäftsführer des Verbands, Lars Békési, fordert deshalb eine Einmalzahlung pro betreutem Kind und eine Erhöhung der Sachkostenpauschale vom Senat. Daß das nötig ist, zeigt ein Beispiel aus der Hauptstadt: Eine Kita mit Platz für 190 Kinder im Bezirk Tempelhof-Schöneberg mußte im März rund 1.000 Euro monatliche Vorauszahlung an ihren Gasanbieter zahlen. Ab August habe sich der Betrag auf 2.000 Euro verdoppelt, ab Oktober würden monatlich rund 9.000 Euro Abschlag fällig. 

Interessant daran ist, daß inzwischen auch die großen Branchenverbände ins selbe Horn blasen. Der Verband deutscher Großbäckereien, der größte in Deutschland, hat bereits drastische Töne angeschlagen und Hilfe von der Politik gefordert. In einer Stellungnahme warnte er vor einer drohenden Verzehnfachung der Energiekosten, die nicht über Preiserhöhungen an die Verbraucher weitergegeben werden und vor Verlusten, die „wirtschaftlich gesunde Betriebe zur Betriebsschließung zwingen könnten“. Schlimmstenfalls drohe sogar „eine Versorgungslücke bei Brot und Backwaren“. 

Unabhängig davon, ob es auch im Westen der Republik Proteste auf der Straße geben wird, geht das Land unruhigen Zeiten entgegen.