© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 41/22 / 07. Oktober 2022

„Im Ernstfall ist es zu spät“
Zivilschutz: Wie auch immer man Moskaus Drohungen mit einer Eskalation einschätzt: Gut vorbereitet sind wir nicht
Christian Vollradt

Es war einmal … So beginnen Märchen. Und wie eine sagenhafte Erzählung aus einer anderen, längst verschollenen Welt klingt heute, was früher tatsächlich einmal Wirklichkeit war. Da fanden in Deutschland Luftschutzübungen statt, und zu bestimmten Zeiten ertönten probehalber die Sirenen und gaben „ABC-Alarm“. Zivilschutz, das war in einer Zeit, in der noch viele die Bombenangriffe des Zweiten Weltkriegs erlebt hatten, weit weniger ungewöhnlich als heute. 

Im November 1961 brachte das damalige Bundesamt für zivilen Bevölkerungsschutz erstmals für alle Haushalte in der Bundesrepublik die Broschüre „Jeder hat eine Chance“ heraus, die Hinweise zum richtigen Verhalten im Fall der Fälle, etwa bei einem „Überraschungsangriff mit Atomwaffen“ gab. Empfohlen wurde, sich unter einem Tisch vor „Glassplittern und Trümmern“ in Sicherheit zu bringen und sich „flach auf den Boden“ zu werfen. Bereits in der Einleitung ermahnte man die Adressaten: „Lesen Sie sie sorgfältig, im Ernstfall ist es zu spät.“ 

Allerdings gab es schon damals Kritik an den seltsam anmutenden Handlungsempfehlungen. Sie seien angesichts der nuklearen Bedrohungsszenarien schlicht vollkommen unrealistisch und zeugten von bloßem Aktionismus. Skeptiker sahen darin in erster Linie einen Versuch staatlicher Stellen, von der eigenen Ohnmacht abzulenken. Denn tatsächlich fehlten die finanziellen Mittel, die gesamte Bevölkerung mit Bunkern oder Schutzräumen zu versorgen. Ende der achtziger Jahre hätten in der „alten“ Bundesrepublik weniger als vier Prozent der Bevölkerung Platz in öffentlichen Schutzräumen gehabt. Immerhin für die Mitglieder der Bundesregierung sowie andere höchste Repräsentanten der Verfassungsorgane wurde 1972 bei Bad Neuenahr unter größter Geheimhaltung ein Atomschutzbunker fertiggestellt. Nach dem Ende des Kalten Kriegs wurde die Anlage außer Dienst gestellt, ein Teil ist heute ein Museum. Auch hier gilt das Motto: Es war einmal …

Spätestens nach der Flutkatastrophe im Ahrtal vor einem Jahr und seit der von Bundeskanzler Olaf Scholz konstatierten „Zeitenwende“ nach dem russischen Angriff auf die Ukraine im Februar dieses Jahres steht das Thema Bevölkerungsschutz wieder auf der Tagesordnung. Endlich habe das nun wieder die Priorität, die ihm schon länger zukommen müsse, räumte Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) als Herrin des – im Kriegs- beziehungsweise Verteidigungsfall relevanten – Zivilschutzes kürzlich ein; und sie versprach, den Schutz der hiesigen Bevölkerung „deutlich“ zu verstärken. 

Das hatten im Frühjahr bereits die Grünen gefordert. Allerdings mit dem Hintergedanken, einen Teil des ausschließlich für die Bundeswehr vorgesehenen Hundert-Milliarden-„Sondervermögens“ für die Zivilverteidigung abzuzwacken. „Der Schutz der Bevölkerung gehört in den Mittelpunkt jeder sicherheitspolitischen Debatte“, meinte Grünen-Chef Omid Nouripour seinerzeit. So müßten deutlich mehr Schutzräume geschaffen werden. „Eine Möglichkeit besteht zum Beispiel darin, grundsätzlich geeignete Bauten wie U-Bahnhöfe, Tiefgaragen oder Keller in öffentlichen Gebäuden in Schutzkonzepte einzubeziehen“, heißt es in dem Programm. Dabei seien besonders vulnerable Gruppen sowie die Barrierefreiheit zu berücksichtigen.

Die im Kalten Krieg genutzten Luftschutzanlagen, etwa in Form von Hoch- und Tiefbunkern sowie alten Stollenanlagen stammten meistens noch aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges. Seit Mitte der sechziger Jahre rüstete man vor allem in bundesdeutschen Ballungszentren Tiefgaragen oder U-Bahnhöfe für Luftschutzzwecke aus. Außerdem standen zwischen 1959 und 1997 sogenannte voll- und teilgeschützte Hilfskrankenhäuser zur Verfügung, deren Nutzung Ende der Neunziger aufgehoben wurde. Insgesamt gab es in den alten Bundesländern etwa 2.000 öffentliche Schutzraumanlagen, von denen aktuell noch 599 bereitstünden. Die in der damaligen DDR betriebenen „wurden nach einer Bestandsaufnahme vor dem Hintergrund der geänderten Bedrohungslage nach dem Ende des Kalten Krieges nicht in das bestehende Konzept der öffentlichen Schutzräume übernommen“, heißt es in einer offiziellen Mitteilung des zuständigen Bundesamts für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK). 

„Diesen Fall hatten  wir tatsächlich noch nie“

Ohnehin ist laut der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben (Bima), die seit der Entwidmung der Anlagen zuständig ist, keine der noch bestehenden funktionsfähig. Um sich einen Überblick, über ihren Zustand zu verschaffen, prüfe der Bund aktuell die Schutzräume – ein Ergebnis werde nach Einschätzung der Bima allerdings nicht vor 2023 vorliegen. Derweil bezweifeln Fachleute mittlerweile, inwieweit in einem heutigen Kriegsszenario ein klassischer Luftschutzbunker überhaupt noch sinnvoll wäre. Die Experten verweisen darauf, daß beispielsweise die bei Königsberg im früheren nördlichen Ostpreußen, der heutigen Enklave Kaliningrad stationierten russischen „Iskander“-Raketen etwa vier Minuten nach ihrem Start Berlin erreichen könnten. Damit gibt es faktisch keine Vorwarnzeit, die ausreichen würde, einen Bunker aufzusuchen.

Aber wie sieht es mit den von Faeser versprochenen Verstärkungen in Sachen Zivilschutz grundsätzlich aus? Im Haushaltsentwurf der Bundesregierung für 2023 sind zunächst einmal 112 Millionen Euro weniger als im Vorjahr für das BBK veranschlagt. Die Opposition schäumt („wie Seifenblasen geplatzte Versprechen“), und auch beim Deutschen Feuerwehrverband herrschen „Entsetzen und völliges Unverständnis“: Die Fähigkeiten für den Kriesenfall würden „nicht verstärkt, sondern verringert“. 

Solche Vortwürfe wies eine Sprecherin des Bundesinnenministeriums umgehend zurück. Der geringere Ansatz im Vergleich zu 2022 sei keine Kürzung; in diesem Jahr seien lediglich Konjunkturprogramme ausgelaufen, von deren Anschaffungen man jedoch immer noch profitiere. 

Auch Deutschlands oberster Bevölkerungsschützer, BBK-Präsident Ralph Tiesler, dementiert, die Mittel für seine Behörde seien gekürzt worden. „Wenn man 2019 mit dem Jahr 2023 vergleicht, haben wir fast 30 Millionen mehr“, sagte er der Zeitung Das Parlament. Doch er schränkt ein, die in diesen Topf geflossenen Sondermittel seien „leider nicht verstetigt“ worden. Das aber wünsche er sich dringend. Denn: „Wir brauchen mehr Geld, ansonsten können wir unsere Ziele nicht so mutig weiterverfolgen.“ Schließlich gelte es vieles schnell nachzuholen, was in den vergangenen relativ krisenarmen Jahrzehnten versäumt wurde.

Um ein Weniger geht es unterdessen auch bei den Notvorräten, etwa der „Bundesreserve Getreide“. Im Vergleich zu Zeiten des Kalten Krieges stehen hier rund 60 Prozent weniger zur Verfügung, obwohl die Bevölkerung um ein Drittel zugenommen hat – und immer weniger Privathaushalte selbst Vorsorge betreiben (JF 33/22). Dennoch plant das Bundeslandwirtschaftsministerium keine Aufstockung bei der Ernährungsnotfallvorsorge mit Lebensmitteln, die lange haltbar sind. Die sei „ausschließlich für den Fall gedacht, wenn die Lebensmittelversorgung nicht mehr über den Markt möglich ist, so ein Ministeriumssprecher. „Diesen Fall hatten wir in der Bundesrepublik Deutschland tatsächlich noch nie.“

Im Klartext: Auf ein Szenario, das so noch nie eingetreten ist, müssen wir uns auch nicht unbedingt vorbereiten. Ganz offensichtlich scheint man in Berlin aus den alten Zeiten des Regierungssitzes am Rhein den Paragraphen 3 des Kölschen Grundgesetzes als Leitmaxime zu beherzigen: Et hätt noch immer jot jejange. 





Zivilschutz

Laut Artikel 73 des Grundgesetzes liegt der Schutz der Zivilbevölkerung im Verteidigungsfall in der Gesetzgebungskompetenz des Bundes. Beim Katastrophenschutz im Frieden sowie bei der allgemeinen Gefahrenabwehr sieht es anders aus: In diesem Fall liegt die Kompetenz laut Artikel 70 bei den Ländern. In beiden Szenarien jedoch sollen Bund und Länder eng zusammenarbeiten. Ländersache sind auch die Feuerwehren, dem Bund untersteht das Technische Hilfswerk. Eingebunden in den Zivil- und den Katastrophenschutz sind auch nicht-staatliche Organisationen wie das Rote Kreuz, Malteser- oder Johanniter-Hilfsdienst. (vo)