© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 41/22 / 07. Oktober 2022

Ohne Schleuser läuft hier gar nichts
Türkei: Ankara zieht gern die Migrationskarte, doch bei der ominösen „Karawane des Lichts“ spielen auch andere Akteure ihre Trümpfe aus
Hinrich Rohbohm

Die Botschaft läßt aufhorchen. „In ein paar Tagen werden wir einen sicheren Sammelpunkt bestimmen. Danach werden wir an die Grenze gehen, egal wie viele wir sind“, verkünden die Organisatoren in Facebook- und Telegram-Gruppen, in denen sie auf arabisch die fast vier Millionen in der Türkei lebenden Syrer dazu aufrufen, sich für die Migration in die Europäische Union bereitzuhalten. Und sie rufen dazu auf, sich hierfür schon mal mit Zelten, Schlafsäcken, Rettungswesten, Erste-Hilfe-Paketen sowie Trinkwasser und Konserven auszurüsten.

Bis zu 100.000 Nutzer verfolgen die Meldungen in diesen Gruppen, die sich „Karawane des Lichts“ nennen. Ihre Organisatoren geben vor, Syrer zu sein. Akademiker. Ärzte, Anwälte, IT-Leute, Ingenieure. Sie seien keine Menschenhändler, versichern die Gruppen-Administratoren. Man arbeite mit den türkischen Behörden zusammen, warte noch auf deren Erlaubnis zum Start.

Wohnungsnot und Inflation ändern das Bild der Syrer in der Türkei  

„Alles ein großer Schwindel“, behauptet Adil. Die JUNGE FREIHEIT trifft den 32jährigen im Istanbuler Stadtviertel Aksaray, einer Drehscheibe des Schleusergeschäfts Richtung Europa. Der Kontakt kommt über einen Mittelsmann zustande. Treffpunkt: ein Café nahe der Metrostation auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Adil ist nicht sein richtiger Name. Er ist vorsichtig geworden. „Die Verhältnisse in der Türkei haben sich verändert“, sagt er. Die Wohnungsnot, die Inflation, der bevorstehende Wahlkampf. All das habe die Situation für die Syrer in der Türkei verschärft.

„Früher wurden wir nicht geliebt, aber geduldet. Jetzt sehen uns viele nur noch als Belastung, man macht uns zum Sündenbock für die Probleme im Land.“ Deshalb wollen nun selbst jene weg, die sich in den Jahren zuvor in der Türkei eine bescheidene Existenz aufgebaut hatten. Adil beugt sich über den Tisch, blickt sich um. „Und Erdoğan will auch, daß wir gehen“, flüstert er. Der Hintergrund: Angesichts der bevorstehenden Wahlen im kommenden Jahr ist es für den türkischen Präsidenten eng geworden. Einst war er es, der die Syrer als islamische Glaubensbrüder aufnahm, um ihnen Schutz vor dem Assad-Regime zu gewähren. Doch durch die dramatische wirtschaftliche Verschlechterung ist die Stimmung im Land gekippt. Die Opposition fordert die Ausweisung der Syrer. Eine Forderung, die Umfragen zufolge eine breite Mehrheit im Land befürwortet.

„Erdoğan macht das, was er schon vor zwei Jahren getan hat: Er versucht, Massen von Syrern an die türkisch-griechische Grenze zu locken, um so Druck auf die EU auszuüben“, ist sich Adil sicher. Und da komme die Karawane des Lichts ins Spiel. „Das ist ein Fake. In Wahrheit steckt die türkische Regierung hinter diesen Kampagnen.“

Innerhalb der syrischen Gemeinschaft sei man gespalten. „Einige glauben diesen Leuten, weil sie verzweifelt sind. Andere Syrer warnen mittlerweile vor der Gruppe. „Die machen den Leuten Versprechungen, sagen, daß die Grenze für sie geöffnet wird und die große Gelegenheit gekommen ist. Aber das ist Quatsch.“ Bekannte von ihm seien bereits gegangen. Und an der Grenze abgewiesen worden. „Es gibt keinen Deal. Die Karawane-Leute behaupten, sie würden das alles unentgeltlich und ohne Schleuser machen. Aber das ist Blödsinn. Ohne Schleuser läuft nichts. Gar nichts.“ Adil macht eine ausladende Geste, kreist mit dem Finger in der Luft. Sieh dich hier um, überall. Die Leute machen hier alle möglichen Deals, um nach Europa zu gelangen. Kostenlos gibt es da gar nichts.“

Und so würden auch hinter der Karawane des Lichts Schleuser stehen. Die Gruppe war Anfang September ins Leben gerufen worden. „Ihr Gründer nennt sich Yad Selim, aber natürlich ist auch das nur ein Fake-Name. Unter uns Syrern kennt den niemand.“ Syrischer Akademiker würden zumeist ohnehin längst in den USA oder Europa leben. „Das Ganze ist ein einziges Märchen.“

Kein Märchen ist hingegen die massive Zunahme von Migrantenbewegungen Richtung Europa. Vor allem nach Deutschland. Laut Zahlen der Europäischen Grenzschutzagentur Frontex kam es in den ersten acht Monaten dieses Jahres bereits zu über 188.000 illegalen Grenzübertritten. Die höchste Zahl seit 2016. Demnach sind die Zahlen besonders auf der Balkanroute alarmierend. Mehr als 86.000 illegale Grenzübertritte verzeichnete die Behörde allein auf diesem Weg. Gegenüber dem Vorjahr eine Zunahme von 190 Prozent.

Adil stellt der JUNGEN FREIHEIT einen Mann vor, der brisante Details über die Schleuserringe kennt. Der Deal: Der Treffpunkt und sein Name sollen unbekannt bleiben. Ebenso wen oder was er vertritt. Auch eine Beschreibung seiner Person soll in dieser Reportage nicht erfolgen. Seine Gegenleistung: Informationen. Näheres über die Hintergründe der türkischen Schleusermafia, die maßgeblich für die neue Migrationswelle verantwortlich sei.

„Diese Leute arbeiten eng mit den türkischen Behörden zusammen. Es handelt sich um einen aus acht Clans bestehenden Schleuserring“, beschreibt der Informant die Gruppe, die sowohl 2015 als auch 2020 dafür verantwortlich gewesen sei, große Migrationsströme in Richtung Europa zu organisieren. „Sie arbeiten mit der türkischen Regierung zusammen. Wenn Präsident Recep Tayyip Erdoğan es wünscht, mobilisieren sie Massen von Migranten für einen Aufbruch nach Europa. Sie verfügen über eine funktionierende Logistikkette für Menschenhandel. Sie haben Leute in den Sicherheitsbehörden der einzelnen europäischen Transitländer, bestechen Grenzkontrolleure, organisieren Boote, Autos, Lkws, Pässe, Flüge und arbeiten eng mit lokalen Schleusern zusammen.“

Wolle Erdoğan der Europäischen Union zeigen, daß er mit ihr kooperiere, würden die selben Leute dafür sorgen, die Migrationsströme zu stoppen. „Dann fließt einfach kein Schmiergeld und die Flüchtlinge fliegen auf. Sie werden dann routinemäßig abgewiesen.“

Erst vor einigen Wochen hatte sich eine Gruppe von 1.500 Migranten von Edirne aus in Richtung des Grenzflusses Evros aufgemacht, um nach Griechenland zu gelangen. Vergeblich. Seit einem Jahr ist der Abschnitt durch Grenzzäune und Wärmebildkameras abgesichert, Massenübertritte wie einst 2015 sind nicht mehr möglich. „Der Schleuserring entscheidet darüber, wer es schafft und wer nicht. Und das ist stets eine Frage des Preises.“

„Ein Paß? Ja, geht! Aber nicht hier, sondern morgen im Großen Basar“

Zugleich nutze Erdoğan den Schleuserring für sein Wechselspiel mit der EU, bestehend aus Kooperation und Erpressung. „Geht die EU auf seine Wünsche ein, kooperiert er. Falls nicht, kommen neue Flüchtlinge nach Europa.“ Angesichts zunehmender Kritik an den Migranten in der Türkei öffne der türkische Staatschef nun wieder die Schleusen. Die Menschenhändler würden dabei die verschiedensten Wege nutzen. Per Landweg über den Evros. Per Seeweg durch die Ägäis bis nach Italien. Und auch direkt per Flugzeug. Diese Methode habe stark zugenommen. 

So hat etwa Serbien mehr Herkunftsländern eine visumfreie Einreise gestattet. Von dort gelangen die Migranten dank intakter Schleuser-Infrastruktur mit Verbindungsleuten bis in hohe Regierungsstellen weiter über Ungarn, Slowakei, Tschechien oder Österreich nach Deutschland. Bis Ende August hatte Österreich 56.000 Asylanträge verzeichnet. Bis Ende des Jahres, so schätzen die Behörden, werden es 80.000 sein. Das wären dann nur 9.000 weniger als während der Migrationskrise 2015.

Wer es sich leisten kann, fliegt mit gefälschtem Ausweisdokument gleich direkt in die Zielländer. Letzteres habe stark zugenommen, meint der Informant. Die JF macht den Test, hört sich in den engen Gassen von Aksaray um, folgt in dem Menschengewirr den Migranten, die sich hier mit der nötigen Ausrüstung für ihre illegale Reise versorgen. Mit Handys, Koffern, Rettungswesten, Zelten und Isomatten. Auffällig: Neben Syrern sind auch zahlreiche Afghanen und Schwarzafrikaner unter ihnen. Aber nur noch wenige bevölkern mit ihren Taschen und Plastiktüten die Plätze und Rasenflächen. Einzeln oder in kleinen Gruppen sind sie zumeist unterwegs.

Wer Hilfe von den Schleusern benötigt, verhandelt in den engen Gassen an den kleinen Tischen mit noch kleineren Stühlen. „Frag einen der Handyverkäufer, der Rest regelt sich von selbst“, rät Adil, um mit den Schleusern ins Geschäft zu kommen. Ich gebe mich als Flüchtlingshelfer aus, sage, daß ich für einen Afghanen einen Paß besorgen möchte, damit er nach Deutschland gelangen kann. Das funktioniert tatsächlich. 

Der Handyverkäufer führt mich plötzlich zu einem der Tische, bietet mir einen Tee an, sagt, ich solle einen Moment warten. Wenige Minuten später setzt sich ein älterer Herr dazu, wohlbeleibt, graues Haar, grauer Schnurrbart. Smalltalk. Über Deutschland. Er war auch da, hat dort mehrere Jahre gearbeitet. In Köln. Wir können deutsch sprechen. „Einen Paß? Deutsch? Ja, geht. Aber das machen wir nicht hier.“ Er nennt einen Treffpunkt: Großer Basar, Morgen elf Uhr, vor dem Eingang.“ 

Wie das Geschäft der Paßfälscher funktioniert und floriert, erfahren Sie in der kommenden Ausgabe der jungen freiheit.

Foto: Mobilitätsbörse im Istanbuler Stadtviertel Aksaray: Begehrte „Reise“-Informationen via Mobiltelefon; Geschäfte in Aksaray: Schwimmwesten gehören mittlerweile zum Standardangebot; In Aksaray bereiten sich Migranten auf die Weiterreise vor: Schleuser-Clans arbeiten eng mit den örtlichen Behörden zusammen