© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 41/22 / 07. Oktober 2022

Gespaltener denn je
Brasilien: Entgegen den Umfragen ist das Rennen um die Präsidentschaft noch nicht gelaufen
Wolfgang Bendel

Voller Zuversicht beschrieb Präsident Jair Bolsonaro die Ergebnisse des ersten Durchgangs der Wahlen in Brasilien: „Gegen alles und alle hatten wir im ersten Wahlgang 2022 ein aussagekräftigeres Votum als im Jahr 2018. Es waren fast zwei Millionen Stimmen mehr! Wir haben auch die meisten Sitze im Abgeordnetenhaus und im Senat.“ 

Entgegen vielen Prognosen, die Ex-Präsident Luiz Inácio Lula da Silva bereits im ersten Wahlgang die absolute Mehrheit voraussagten, wird es in Brasilien einen zweiten Wahlgang geben. Lula kam auf 48 Prozent der Stimmen, Amtsinhaber Jair Messias Bolsonaro auf 43 Prozent. In den Umfragen lag Lula zuletzt mit bis zu 14 Prozentpunkten vorn. Allerdings sind Erhebungen dieser Art in Brasilien wenig aussagekräftig, da sie oft mehr über die Interessen ihrer Auftraggeber aussagen als über die Stimmung im Wahlvolk.

In beiden Häusern des Kongresses verfügt die Präsidentenpartei PL (Partido Liberal) jetzt über die größten Fraktionen. 99 Sitze im Abgeordnetenhaus und 13 Sitze im Senat. Die traditionell im Abgeordnetenhaus stärkste Partei, Lulas linke PT (Partido dos Trabalhadores – Partei der Arbeiter), die zusammen mit zwei linksradikalen Kleinparteien als Federacão Brasil da Esperança (FE Brasil – Föderation Brasilien der Hoffnung) kandidierte, wurde mit 80 Sitzen deutlich auf den zweiten Platz verdrängt. Im Senat liegt sie sogar nur an fünfter Stelle mit acht Sitzen.

Lula seinerseits zeigte sich siegessicher: „Während des gesamten Wahlkampfs lagen wir in den Meinungsumfragen aller Institute vorn, und ich war immer der Meinung, daß wir diese Wahlen gewinnen würden, und ich möchte Ihnen sagen, dass wir diese Wahlen gewinnen werden. Für uns ist das nur eine Verlängerung.“

Der Wahlkampf war hitzig, stark polarisiert und wieder einmal gekennzeichnet von den für Brasilien so typischen und kaum vorauszusehenden Umgruppierungen der politischen Kräfte.

„Aber sehen Sie sich die Dreistigkeit dieser Gruppe an. Nachdem er Brasilien zerstört hat, will Lula zurück an die Macht. Das heißt, meine Freunde: Er will an den Ort des Verbrechens zurückkehren.“ Mit diesen deutlichen Worten charakterisierte der Sozialdemokrat Geraldo Alckmin vor vier Jahren Lula und dessen linke PT. Pikant an der Sache ist, daß derselbe Alckmin diesmal als Kandidat für das Amt des Vizepräsidenten gemeinsam mit dem Ex-Präsidenten antritt. 

Das Land ist politisch so tief gespalten wie selten zuvor. Lula gegenüber steht der amtierende Präsident Bolsonaro, der christlich-konservative Werte verteidigt. Auf einer Veranstaltung in Sorocaba im Bundessaat São Paulo erklärte der amtierende Präsident mit Blick auf seinen Herausforderer Lula und indem er auch an das vor vier Jahren auf ihn verübte Attentat erinnerte: „Ich danke Gott für mein zweites Leben. Ich danke ihm auch für den Auftrag, den er mir erteilt hat, mich in das Amt des Präsidenten der Republik zu bringen. Wir haben es mit dem Bösen zu tun. Der Teufel ist uns voraus, der uns den Kommunismus in Brasilien aufzwingen will. Eine Person, die in Sachen Korruption weltweit führend war. Ein Mensch, der nichts Gutes für unser Land hinterlassen hat.“ 

Inhaltlich sind die Unterschiede zwischen beiden nicht sehr groß 

Bolsonaro, der nach einem weiteren Parteienwechsel diesmal für die Liberale Partei (PL) kandidiert, hofft, daß ihm die zuletzt verbesserte wirtschaftliche Lage helfen wird. Die Inflation ging deutlich zurück und liegt mit unter neun Prozent erstmals niedriger als beispielsweise in der Eurozone. Die Arbeitslosigkeit verringerte sich signifikant und zuletzt wurde eine historische Rekordernte eingefahren.

Sein Hauptgegner Lula da Silva konterte seinerseits am 200. Jahrestag der brasilianischen Unabhängigkeit: „Der 7. September soll von allen Brasilianern mit Freude und Einigkeit gefeiert werden. Leider ist das heute nicht der Fall. Diese Regierung hat die Menschen im Stich gelassen und das Land zerstört. Sie benutzen unsere Flagge, um zu lügen, Haß zu predigen und den Verkauf von Waffen zu fördern.“ Eine beidseitige verbale Radikalisierung ist unübersehbar. 

Ex-Präsident Lula war 2018 in zweiter Instanz in zwei Verfahren wegen passiver Korruption sowie Geldwäsche zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt worden und hatte damit bis auf weiteres das passive Wahlrecht verloren. Nach 19 Monaten Haft wurde er freigelassen und die Urteile wurden aufgehoben, weil die Gerichte laut Höchstgericht nicht zuständig waren. Ein neues Verfahren am nunmehr zuständigen Gericht konnte nicht mehr eingeleitet werden, weil die unterstellten Straftaten inzwischen verjährt waren, womit er formell als nicht vorbestraft gilt. 

Lula wird massiv von den Gewerkschaften und der „Zivilgesellschaft“ unterstützt. Auch das westliche Ausland ist weitgehend auf seiner Seite, nicht zuletzt deshalb, weil man von ihm mehr Zugeständnisse erwartet, was eine projektierte Internationalisierung des Amazonasgebietes betrifft. Bolsonaro findet seine Unterstützer in weiten Teilen der Streitkräfte, der in Brasilien sehr wichtigen Agrarwirtschaft und in den höchst einflußreichen und mitgliederstarken evangelikalen Kirchen. Die größte Zustimmung erfährt er in den südlichen Bundesstaaten, während Lulas Bastion der Nordosten ist.

Inhaltlich sind die Unterschiede zwischen den beiden Hauptkandidaten gar nicht so groß, wie man angesichts der gegenseitigen Beschimpfungen vermuten sollte. Sowohl der Linkspopulist Lula als auch der Rechtspopulist Bolsonaro wollen beispielsweise die sozial Schwachen durch Sozialprogramme, die sich nur in ihrer Bezeichnung voneinander unterscheiden, unterstützen. Im Ukrainekonflikt halten sich beide eher bedeckt und vermeiden eine eindeutige Parteinahme für eine der beiden Seiten. Lula unterlief dabei der Lapsus, die Ukraine außerhalb Europas zu verorten. Bei einem Treffen mit EU-Parlamentariern sagte er in São Paulo: „Europa (…) kann nicht das Opfer eines Krieges sein, der nicht direkt in Europa stattfindet, aber es wirtschaftlich betrifft.“ 

Große Differenzen gibt es auf dem Gebiet der Agrarwirtschaft, wo Lula sich für Landlose einsetzen will, während Bolsonaro die enorme Bedeutung der Landwirtschaft für den brasilianischen Außenhandel hervorhebt. Ein Viehzüchter, der in großem Stil Rinder nach China exportiert, erklärte gegenüber der JF: „Wenn Lula gewinnt, verkaufe ich alles und stelle die Produktion ein.“ Entgegengesetzte Positionen gibt es auch beim Thema Waffenbesitz: Bolsonaro ist dafür, Lula dagegen.

Die sonstigen Kandidaten kamen zusammen nur auf gut acht Prozent der Stimmen, darunter drei für den Linksnationalisten Ciro Gomes und vier Prozent für die im politischen Zentrum zu verortende Simone Tebet. Deren Wähler werden für den Ausgang des zweiten Durchgangs entscheidend sein. Insgesamt waren zwölf Kandidaten angetreten. Der zweite Wahlgang findet am 30. Oktober statt.

Foto: Lula da Silva und Jair Bolsonaro: Im ganzen Land omnipräsent