© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 41/22 / 07. Oktober 2022

Kreative Haushaltsführung
Finanzpolitik: Netto-Neuverschuldung schöngerechnet / Intransparenz auch auf EU-Ebene
Dirk Meyer

Wer soll das alles bezahlen und wovon? Erst Corona, dann der Ukraine-Krieg und die Sanktionen – die dreistelligen Milliardenpakete haben die Staatsfinanzen hart getroffen. Daher wird jetzt schöngerechnet. Hintergrund ist die von der FDP versprochene Wiedereinhaltung der Schuldenbremse ab 2023, zu der sich die Ampel 2021 im Koalitionsvertrag bekannte. „Die Haushalte von Bund und Ländern sind grundsätzlich ohne Einnahmen aus Krediten auszugleichen“ – so heißt es schließlich in Artikel 109 des Grundgesetzes.

Die Neuverschuldung des Bundes darf daher nur bis zu 0,35 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) betragen – das sind für 2023 bei einem Haushaltsansatz des Bundes von 445,2 Milliarden Euro nur 17,2 Milliarden Euro. Nachdem für die Corona-Jahre 2020 bis 2022 die Schuldenbremse mit Verweis auf „Naturkatastrophen oder außergewöhnliche Notsituationen“ außer Kraft gesetzt wurde, soll sie 2023 wieder gelten. Deshalb waren die Etatplanungen auf eine Neuverschuldung von 17,2 Milliarden Euro zu trimmen. Und FDP-Fraktionschef Christian Dürr hat bei zehn Prozent Geldentwertung ein zweites Argument: „Eine Begrenzung der Staatsausgaben ist in Zeiten galoppierender Preise vor allem auch eine Inflationsbremse.“

Bundesrechnungshof kritisiert „budgetflüchtige“ Ausgaben

Doch Finanzminister Christian Lindner versucht sich in kreativer Buchführung, um alle Milliardenwünsche des Kanzlers und der Ministerkollegen zu erfüllen. Das geht aus einem aktuellen Bericht des Bundesrechnungshofs (BRH) an den Haushaltsausschuß des Bundestags hervor. Als parteiunabhängiges Organ der Finanzkontrolle hat die Bonner Behörde nicht nur die „gesamte Haushalts- und Wirtschaftsführung des Bundes“, sondern auch die „Sondervermögen“ unter die Lupe genommen. Und da stellt der BRH „budgetflüchtige“ Ausgaben fest, die das dargestellte finanzielle Bild verzerren würden: Die tatsächliche Kreditaufnahme des Bundes sei viermal höher als im Haushaltsgesetzentwurf ausgewiesen. Wie war das möglich?

Da ist erstens der Zugriff auf die Allgemeine Rücklage in Höhe von 40,5 Milliarden Euro. Sie entstand durch Etatüberschüsse in den Jahren 2015 bis 2019 von insgesamt 48 Milliarden Euro. Die Mittel wurden damals zur Abtragung der Bundesschuld genutzt, sind also gar nicht mehr vorhanden. Dennoch sind sie auf einem „Kontrollkonto“ als eine Art Kreditermächtigung ohne Verfallsdatum und ohne spätere Berücksichtigung in der Schuldenregel vermerkt. Daraus dürfen 2023 entsprechende Kredite gezogen werden – die Ampel macht also den fünfjährigen Schuldenabbau wieder zunichte. Für zukünftige Überschreitungen bleiben nur noch knapp acht Milliarden Euro übrig.

Zweitens wurde die Buchungsregel für Sondervermögen Anfang des Jahres geändert. Das sind Teile des Bundesvermögens, die zur Erfüllung einzelner Aufgaben des Bundes bestimmt sind, aber buchhalterisch abgesondert vom Kernhaushalt geführt werden. Beispiele sind der Finanzmarktstabilisierungsfonds (2008) oder der Wirtschaftsstabilisierungsfonds (WSF) von 2020. Bei diesen Nebenetats wird eine zeitliche Vorverlagerung der Verbuchung für aufgenommene Kredite auf den Tag der Zuweisung vorgenommen – beispielsweise indem der Bundestag Kreditermächtigungen für zukünftige Jahre beschließt, ohne daß eine Schuldenaufnahme im Beschlußjahr erfolgt. Die Schuldenregel wird damit flexibilisiert.

Mithin fallen die in Vorjahren erfolgte Kreditverbuchung (Buchungsansatz) und die tatsächliche Kreditaufnahme in späteren Jahren (Kassenwirksamkeit) auseinander. Konkret betrifft es den Klima- und Transformationsfonds (9,3 Milliarden) und das Sondervermögen Digitale Infrastruktur (2,7 Milliarden), die 2023 nach Plan zwölf Milliarden Euro neue Schulden aufnehmen werden, ohne daß dieser Betrag in die Netto-Neuverschuldung eingerechnet wird. Nicht berücksichtigen konnte der BRH auch den „Doppel-Wumms“ – die 200 Milliarden Euro für den „Abwehrschirm gegen die Folgen des russischen Angriffskrieges“, also die Schulden für die Gas- und Strompreisbremse und die Beschaffung von Flüssigerdgas (LNG). Dafür erhalte der WSF „zusätzliche Kreditermächtigungen“, deren Realisierung auf die Schuldenbremse 2023/24 ebenfalls nicht angerechnet wird. Ein dritter, besonders kreativer Fall ist das Sondervermögen für die Bundeswehr. Hier werden zwei Kunstgriffe kombiniert: Im Juni wurde zunächst eine Sonderregelung ins Grundgesetz aufgenommen (Artikel 87a), die eine Kreditermächtigung für 100 Milliarden Euro erlaubt – ohne daß im Jahr 2022 eine Anrechnung auf die Schuldenregel erfolgt.

Weitere Milliardenausgaben mit Kollektivhaftung der EU-Staaten

Im Haushaltsplan 2023 werden hieraus 8,5 Milliarden Euro für Beschaffungen der Bundeswehr als Kredit geplant, ebenfalls ohne die offizielle Netto-Neuverschuldung zu tangieren. Aus dem „Sonderfonds Kultur“ von Staatsministerin Claudia Roth wurde vorerst nichts – die „rapide steigenden Energiekosten“ sollen zunächst mit Restmitteln des Sonderfonds für Kulturveranstaltungen ausgeglichen werden. Im Ergebnis beträgt die „echte“ Netto-Kreditaufnahme 78,2 Milliarden Euro und damit das Vierfache des regierungsseitigen Haushaltsentwurfs. Zwar verstoßen diese Buchungspraktiken gegen keine Gesetze. Jedoch werden – so auch der Bundesrechnungshof – die verfassungsrechtlichen Haushaltsgrundsätze wie Fälligkeit, Vollständigkeit und Jährlichkeit in Frage gestellt.

Aber auch das ist nur ein Teil der Wahrheit. Die EU hat seit 2020 Gemeinschaftsschulden aufgenommen, die in keiner nationalen Etatrechnung genannt werden, für die aber Tilgungsleistungen zugesichert, zumindest aber gemeinschaftliche Haftungsversprechen gegeben wurden. Dies betrifft die EU-Kurzarbeiterhilfe SURE (100 Milliarden), den Corona-Plan NextGenerationEU (807 Milliarden) und eine EU-Makrofinanzhilfe für die Ukraine (neun Milliarden), die als Darlehen mit Kollektivhaftung (Quasi-Eurobonds) ausgegeben werden.

Bei einem Finanzierungs- bzw. Haftungsanteil von 24 Prozent für Deutschland können also erhebliche Lasten auf den Bund zukommen, sollte die EU diese Zahlungen nicht aus ihrem laufenden Budget leisten können. Im Bundeshaushalt sind diese Risiken nicht durch Eventualverbindlichkeiten abgebildet. „Wir erleben eine Zeitenwende“, so Olaf Scholz in seiner Regierungserklärung am 27. Februar – laut Bundesrechnungshof offenbar auch in Sachen kreativer Haushaltsführung.






Prof. Dr. Dirk Meyer lehrt Ökonomie an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg.

 www.bundesrechnungshof.de