© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 41/22 / 07. Oktober 2022

„Europas Rentner können kommen“
Tourismus: Wegen der Strom- und Heizkosten wollen viele Deutsche im kommenden Winter nur eins – möglichst weit weg
Paul Leonhard

Die bislang noch reichen EU-Staaten sind erneut das Ziel Hunderttausender Wirtschaftsflüchtlinge aus Afrika und Asien. Besonders attraktiv scheint dabei das deutsche Sozialsystem, weil die gewählten Regierenden im Bund sowie in den Ländern und Kommunen weiter signalisieren, auch alle aufnehmen zu wollen – koste es, was es wolle. Gleichzeitig gibt es nun aber ein neues Phänomen: Deutsche und schon länger hier Lebende überlegen, sich zumindest über den Winter nach einem Ausweichquartier umzusehen. Denn die verfehlte Energiepolitik und die Sanktionen lassen Strom- und Heizkosten befürchten, die selbst das Budget von Mittelklassehaushalten sprengen dürften.

Damit ist nicht ein verlängerter Winterurlaub in Tirol, der Schweiz oder der Slowakei gemeint, denn auch dort könnte die europäische Energiekrise jede Urlaubsfreude verleiden: Kalte Zimmer und Hallenbäder, kein Strom für die Skilifte oder gar dunkle und von der Außenwelt abgeschnittene Urlaubsorte. Je nach finanzieller Lage bieten sich Portugal, Spanien, Zypern, die Türkei, Ägypten, Marokko oder fernere Ziele wie die Dominikanische Republik, Namibia, Südafrika, Thailand, Mexiko oder der Süden der USA an. Vorausgesetzt, man hat genug Urlaubstage und keine schulpflichtigen Kinder oder ist schon Rentner bzw. Pensionär.

Jedenfalls wollen in diesem Winter drei Viertel der Deutschen verreisen. Das ergab eine Blitzumfrage des Marktforschungsinstituts Yougov im Auftrag des Reisekonzerns Tui unter 2.100 Personen. Und die durch zwei Jahre Corona gebeutelte Reisebranche wirbelt nun kräftig die Werbetrommel: „60 Tage Urlaub – zum Energiesparen in die Sonne Nordafrikas“, heißt es etwa beim Reiseunternehmen FTI. Wer einen deutschen Reisepaß hat, kann in über hundert Ländern der Welt drei Monate bleiben, denn für einen solchen Aufenthalt wird kein Visum benötigt. Ob die in Deutschland eingesparten Strom-, Gas- und Lebensmittelkosten für die Winterflucht ausreichen, ist allerdings fraglich, denn die Miete und Versicherungen in Deutschland laufen ja weiter.

Dennoch ist der Preiskrieg längst eröffnet: Kosten bei FTI jeweils 23 Tage Türkei inklusive Flug ab 634 Euro pro Person und Ägypten 1.134 Euro sowie zwei Monate Tunesien knapp 1.800 Euro, so unterbietet Lidl das noch. Dort kostet ein dreiwöchiger Türkeiurlaub im Hotel inklusive Vollpension und Flug 599 Euro im Januar – was 28,50 Euro am Tag entspricht. Hotelbesitzer auf Mallorca folgen diesem Trend: So kosten 42 Nächte mit Halbpension inklusive Flug pro Person 1.649 Euro – also 39 Euro pro Tag. Billiger kommen im kalten Deutschland nur Sparfüchse über die Runden. Wer den ganzen Januar in einer Ferienwohnung auf den Kanaren verbringen will, muß mit 1.500 Euro rechnen – plus Flugkosten und Verpflegung für jeden Gast.

Zum Energiesparen bis Frühjahr billig in sonnige Länder fliegen?

Deutsche sind fast überall willkommen. Selbst die Griechen – die wie die Polen immer noch offiziell Reparationen für den Zweiten Weltkrieg verlangen – präsentieren sich als großzügige Gastgeber: „Für Herbst und Winter wäre es für uns Griechen eine große Freude, deutsche Rentner zu begrüßen, die einen mediterranen Winter mit griechischer Gastfreundschaft, mildem Wetter und hochwertigem Service erleben möchten“, warb der griechische Tourismusminister Vasilis Kikilias schon im Sommer via Bild um die Teutonen: „Wir werden hier auf Sie warten.“ Das tun die benachbarten Türken auch: „Diesen Winter sind sie bei uns – Europas Rentner kommen“, titelte die Tageszeitung Hürriyet. Thailand lockt sogar mit einem neuartigen Sechsmonatsvisum für Rentner. Hin- und Rückflug sind für gut 800 Euro zu haben.

Auch Spanien hofft auf mitteleuropäische Winterflüchtlinge. Der irische Billigflieger Ryanair hat seinen Flugplan entsprechend ausgerichtet: Man rechne mit 50 Millionen Passagieren, sechs Millionen mehr als vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie, erklärte Konzernchef Eddie Wilson. Für den Winter seien 52 neue Routen nach Spanien geplant. „Die Nachfrage nach Langzeiturlauben ist gestiegen“, bestätigt Tui-Sprecher Aage Dünhaupt. Und der frühere Lufthansa-Manager hat inzwischen auch Freiberufler, Börsenmakler und Angestellte, die im Homeoffice arbeiten können, im Visier. Die Marken Robinson, Tui Magic Life und Tui Blue bieten „Arbeitszimmer“ an: Schreibtisch, Bürostuhl, Drucker und schnelles Internet inklusive.

Und wenn Deutschland wegen Strom- und Gasmangel über den winterlichem Energie-Lockdown stöhnt, können diese „Urlauber“ ungestört an ihren Projekten weiterarbeiten. Ein Problem gibt es aber, wenn es länger in Länder außerhalb der EU geht. Bezahlbare Auslandsreisekrankenversicherungen gibt es in der Regel nur für sechs Wochen – deswegen sind längere Winterreisen speziell für Rentner ein Vabanquespiel. Wer maximal 74 Jahre alt ist und drei Monate in Arizona, Florida oder Kalifornien überwintern will, muß über 1.000 Euro allein für die Krankenversicherung einplanen – von Selbstzahlungen ist sogar Millionären angesichts der horrenden US-Gesundheitstarife abzuraten. Ab 75 ist man praktisch nicht mehr bezahlbar versicherbar. In billigeren Destinationen ist die medizinische Versorgung nur etwas für Kerngesunde.

Die deutsche Hotelbranche hat all dem wenig entgegenzusetzen. Sie hatte in den vergangenen Jahren darauf gesetzt, den Deutschen zu zeigen, wie schön das eigene Land auch in der kalten Jahreszeit sein kann und in den Ausbau von Ganzjahresbädern, Museen und Kultureinrichtungen investiert – doch diese dürften wegen der Energiekosten kalt oder geschlossen bleiben. Überdies kann man durch die meisten deutschen Museen inzwischen bei Bedarf auch virtuell bummeln, vom Hotelzimmer im sonnigen Dubai beispielsweise. Und damit kein Fernreisender beim oft chaotischen Einsteigen in den Ferienflieger einen Herzinfarkt erleidet, bietet Condor ab 1. November einen neuen Service für Flüge in die Karibik und die USA an: Ab 9,90 Euro kann man für sein Handgepäck ein Gepäckfach reservieren.


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