© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 41/22 / 07. Oktober 2022

Sinnfällige Botschaften
Politische Symbole sind im öffentlichen Raum allgegenwärtig
Karlheinz Weißmann

Die britische Nationalflagge, der Union Jack, auf halbmast nach dem Tod der Queen, die Regenbogenflagge im „Pride Month“ über dem Reichstag, der Propagandamarsch israelischer Nationalisten unter Fahnen mit dem Davidstern, die rote Farbe, mit der hierzulande Denkmäler von Kaiser Wilhelm und Bismarck übergossen werden, die Proteste der „Gelbwesten“ in Frankreich, das „Z“ an den russischen Panzern, die überall gegenwärtigen ukrainischen Nationalfarben – das sind nur einige aktuelle Beispiele für die Präsenz politischer Symbole im öffentlichen Raum. Es handelt sich um besonders sinnfällige. Was nicht bedeutet, daß andere ohne Bedeutung wären: die Anerkennung des bayerischen „Kreuzerlasses“ durch Gerichtsurteil, die Beibehaltung des Fraktur-A der Apotheken trotz der Kampagne Böhmermanns oder die feierliche Einführung der „Freedom Flag“ in den USA zum Gedenken an die Opfer des Anschlags vom 11. September 2001.

Wir mögen es bemerken oder nicht: Politische Symbole sind allgegenwärtig. Denn sie bilden einen Teil jenes symbolischen Kosmos, der uns umgibt. Seit jeher muß man sagen. Denn der Mensch ist das animal symbolicum, das Symbole schaffende, das auf Symbole angewiesene Wesen, das in Ermangelung sicher funktionierender Instinkte gezwungen ist, sich selbst, die Gemeinschaft, in der er lebt, seine Umgebung wie seine Werke durch die Nutzung von Zeichen zu begreifen und zu ordnen. Die britische Anthropologin Mary Douglas sprach davon, daß ein „entwickeltes symbolisches Orientierungsschema (…) eine Lebensnotwendigkeit für Menschen [ist], um ihre wechselseitigen Beziehungen in Raum und Zeit zu stabilisieren“.

„Die Sache, ohne die Sache zu sein, und doch die Sache“

Dagegen wird mancher einwenden, daß das in der Vergangenheit so gewesen sein mag, aber in der Moderne Stabilisierung durch den Einsatz zweckrationaler Verfahren erreicht wird. Nur primitivere Sozialformen hätten symbolische Vermittlung gebraucht. Ohne Zweifel nahmen und nehmen traditionsgebundene Gesellschaften Symbole ernster als wir. Das gilt für Kennzeichen schon in ihrer elementaren Form durch Beschneidung, Tätowierung, Deformierung oder Verstümmelung bestimmter Körperteile, um die Zugehörigkeit zu einem Clan, einem Stamm oder einer Bevölkerungsklasse zu markieren.

Das gilt aber auch für Rangzeichen. Die Massai verfügten über ein kompliziertes System von Tapferkeitsauszeichnungen an ihren Kampfschilden. Wer sie führte, ohne sie verdient zu haben, wurde ausgestoßen. Strenge Strafen erwarteten auch den, der ohne Recht den roten Purpurstreifen trug, der den römischen Senatoren vorbehalten war. Zuletzt geht es neben Kenn- und Rang- auch um Hoheitszeichen. Im Mittelalter galt nur der als legitimer König, der die Heilige Lanze besaß, und der Fähnrich der Landsknechte mußte schwören, das Feldzeichen bis zum Tod zu verteidigen, notfalls in sein Tuch gewickelt zu sterben.

Wenn uns das heute unverständlich erscheint, dann weil wir schärfer als die früheren und die außerhalb des westlichen Wohlstandsgürtels liegenden Kulturen zwischen Symbol und Symbolisiertem trennen. Die Kommunikationstheoretiker glauben der Sache auf den Grund gegangen zu sein, wenn sie von „Sender“, dem, der das Symbol nutzt, „Botschaft“, dem Symbolisierten, und „Empfänger“, dem, der das Symbol erkennt und entschlüsselt, sprechen. Damit erscheint das Symbol als etwas Sekundäres, das Symbolisierte als das Primäre. Eine Scheidung, die sich so aber nur in Europa und den stark von Europa beeinflußten Regionen durchgesetzt hat. In der Vergangenheit und in anderen Weltgegenden war man sich immer der Paradoxie bewußt, die Goethe auf die Formel brachte: Das Symbol „ist die Sache, ohne die Sache zu sein, und doch die Sache“.

Gemeint ist damit, daß sich Symbol und Symbolisiertes durchdringen, daß eins Anteil am anderen hat. Eine Vorstellung, die der aufgeklärte Mensch des 21. Jahrhunderts zwar von sich weisen mag, aber doch noch in Resten kennt. Deutlich wird das im Fall jener Symbole, die mit starken Gefühlen verbunden sind: die roten Rosen, die der Mann seiner Angebeteten bringt, Brot und Wein, in denen für Katholiken oder Lutheraner Christus ist, das Schwarz, das erzogene Menschen bei Trauerfeiern tragen, und der Stein von Scone, auf dem stehend oder sitzend der legitime König von Schottland ausgerufen wurde, und der zur Krönung Charles III. aus Edinburgh nach London in die Abtei von Westminster gebracht werden wird.

Es geht in allen diesen Fällen um das, was Mary Douglas „verdichtete Symbole“ genannt hat, und der Tendenz nach gehören politische Symbole in diese Kategorie. Denn sie klären mit, zu welcher entscheidenden – politischen – Formation der einzelne gehört. Ein Sachverhalt, der in ruhigen Zeiten vergessen werden kann, aber im Konfliktfall sofort wieder präsent ist, wenn es um eine Antwort auf die existentielle Frage geht: „Wir oder Nicht-Wir?“ 






Dr. Karlheinz Weißmann, Historiker, hat soeben in der JF-Edition das „Lexikon politischer Symbole“ (JF 40/22) vorgelegt.