© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 41/22 / 07. Oktober 2022

CD-Kritik: György Kurtág, Anna Prohaska und Isabelle Faust
Kafkaeskes
Jens Knorr

Die unbedingte Klarheit und der spielerische Humor der Prosa Franz Kafkas machen dem Leser die gesellschaftliche Absurdität durchschaubar, die Kafkas Figuren undurchschaubar bleiben muß. Doch nicht aus dem schriftstellerischen Werk, sondern aus privaten Texten Kafkas hat der ungarisch-französische Komponist György Kurtág wiederum Stücke ausgeschnitten, Fragmente fragmentarisiert, und zu 40 kurzen Sätzen verdichtet. Kurtágs „Kafka-Fragmente“ op. 24, 1987 bei den Wittener Tagen für Neue Kammermusik uraufgeführt, sind längst als einer der großen Liederzyklen des 20. Jahrhunderts anerkannt.

Webern trifft Bartók, kompositorische Notwendigkeit trifft einsichtsvolle Freiheit der Interpreten, die Sopranistin Anna Prohaska trifft die Violinistin Isabelle Faust. Die Guten wandern im gleichen Schritt. Wie Prohaska die stimmlichen Möglichkeiten ihres hohen Soprans ausreizt, wie sie Singen in Rufen, Schreien, Keifen auflöst, das doch immer Singen bleibt, wie sie das Singen und den Sänger selbst thematisiert, das beweist gesicherte Technik und klaren Kopf. Der Hörer folgt den Melodien, Melismen, Worten, Silben, Vokalen der Gesangsstimme ebenso gebannt wie den Untermalungen, Kommentaren, Eskapaden der Instrumentalstimme. Was bei Schubert die Drehleier des Leiermanns, das ist bei Kurtág die Violine, bei Faust eine Stradivari „Sleeping beauty“ von 1704. 

Diese Aufnahme ist ein Glücksfall, diese Interpretation maßgebend und klassisch bereits zum Zeitpunkt ihres Erscheinens. Fürchtet euch nicht!

György Kurtág Kafka-Fragmente harmonia mundi 2022

 www.harmoniamundi.com  www.annaprohaska.com