© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 41/22 / 07. Oktober 2022

Dorn im Auge
Christian Dorn

Die B.Z.-Ausgabe vom 1. Oktober 2022 feiert ihren 145. Geburtstag. Das Foto in der Jubiläumsbeilage zeigt die Redaktion der 1877 gegründeten Berliner Zeitung, die seit 1904 unter dem Kürzel B.Z. erscheint. Abgebildet ist ein Redaktionsraum im Jahr 1886, in dem ausschließlich Männer arbeiten, alle über die Tische gebeugt. Dieser zweifelsfrei dokumentierte strukturelle Sexismus muß der Vergangenheit angehören, nicht zuletzt bei den Geschlechterrollen. Das belegt dieselbe B.Z.-Ausgabe mit ihrem Aufmacher unter der Schlagzeile: „Berlin – 1. schwul-lesbische Kita“. Tatsächlich ist es deutschlandweit das erste Projekt dieser Art. Das Haus, das am Südkreuz entsteht und für das bereits 60 Kinder angemeldet seien, soll dafür sorgen, daß sich die Kinder nach der Kita „leichter outen können“. Schließlich ist Zwangsouting strafbar. Bezeichnenderweise findet sich im Vorstand des Gesellschafters ein betagter Pädophilie-Verfechter, der – wo bleibt die Diversität? – ein wirklich weißer „alter Sack“ ist. Was ich vor Jahren als Witz formulierte, wird immer realer: der erste Schultag als „Einschwulung.“

„Am Tierpark“ – George Orwell ist den Schülern von heute  nicht mehr zu vermitteln.

In Neu-Ozeanien, dem Berliner Bezirk Lichtenberg, wird derweil „Winston Smith“ verbannt, was immerhin humaner scheint als die Hinrichtung für den Großen Bruder. So hat sich das Lehrerkollegium der George-Orwell-Oberschule mit neun zu zwei Stimmen für die Umbenennung ihrer Schule entschieden, da die Bedeutung des Namens George Orwell den Schülern von heute nicht mehr zu vermitteln sei. Ab Oktober heißt die Schule „Am Tierpark“ – was natürlich anders klingt als „Die Farm der Tiere“. Da hilft es auch nicht – so der Hinweis des kulturpolitischen Sprechers der AfD-Bundestagsfraktion Marc Jongen bei einer Veranstaltung in Pankow –, daß die Neuausgabe des Orwell-Titels „1984“ im dtv-Verlag mit einem Vorwort von Robert Habeck erschienen ist. Es ist wirklich kein Witz.


„Deutschland ist Geschichte“ – das doppeldeutige Fazit, das ich mir einst für eine Kampagne ausdachte, wird plötzlich Realität, als ich im Auto vor dem Deutschen Historischen Museum im Stau feststecke: Über dem Haus weht die ukrainische Nationalflagge. Deutschland scheint wirklich Geschichte. In Gera, so der Deutschlandfunk, soll der AfD-Politiker und Geschichtslehrer Björn Höcke gerufen haben: „Wir Deutschen (sic), wir sind die Stiefelknechte der Amerikaner.“ Ausgerechnet der „Erlöser“, zu dessen Erscheinen gern „Der Messias“ angestimmt wird, benutzt die – laut Duden – „schwache“ Form, und nicht die „starke“ („Wir Deutsche“). Jetzt scheint der Untergang wirklich alternativlos. Das Fiasko von „Höckaido“ wird ergänzt durch den Tag der offenen Moschee, der auf den Tag der Deutschen Einheit gelegt wurde. Das steckt an: So treffe ich beim Besuch im Evangelischen Krankenhaus in Schöneberg auf muslimische Schwestern mit Kopfuch, die hier mit offenen Armen eingestellt werden, während die Sprecherin im Deutschlandfunk den Namen Katar wie „Cutter“ ausspricht – und tatsächlich: Zeit, hier einen Schnitt zu machen.