© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 41/22 / 07. Oktober 2022

Der erste Bayer
Eis- und Heißzeit im Wechsel: Eine Ausstellung im Rosenheimer Lokschuppen beleuchtet das Verhältnis von Mensch, Natur und Klima vor etwa 30.000 Jahren
Felix Dirsch

Manch ein Lokschuppen-Besucher im Hochsommer dieses Jahres mag es als angenehm empfunden haben, wenn er seine Hand an einem Eisblock kühlen konnte, der am Eingang in die Wand eingelassen wurde. Die Symbolkraft ist offenkundig. Die Temperaturen fangen an zu sinken; es wird dunkler, wenn man eintritt.

Man kann sich heute kaum eine Vorstellung darüber machen, wie die Abkühlung auf Hunderte von Generationen unserer Vorfahren gewirkt haben dürfte. Jedenfalls sind wir „Kinder der Eiszeit“, wie der Titel einer populären Darstellung lautet. Eine Großtafel am Beginn des Rundganges gibt einen Einblick in den derzeitigen Stand der Forschung zur Menschwerdung (Hominisation). Nach aktuellen Erkenntnissen der Paläoanthropologie markiert eine ausgestorbene Art der Menschenaffen (Sahel-anthropus tchadensis) den Beginn der Kette, an deren Ende der Homo sapiens sapiens steht. Vor rund sechs Millionen Jahren hatte sich die gemeinsame Abstammungslinie von Hominiden-Ahnen und Menschenaffen (Orang-Utans, Schimpansen und Gorillas) getrennt. Fachleute haben sie in den letzten Jahrzehnten ständig neu bestimmt. Der Weg in die Gegenwart führt über diverse Varianten von Ardipithecinen, Australopithecinen und Arten von Hominiden zur bekannten Menschenart am vorläufigen Ende der Abfolge.

Eiszeitjäger durchstreiften fast menschenleere Räume

Die Genese des Menschenstammes beruht auf diversen Voraussetzungen. Sie sind vornehmlich tektonischer Art. Ohne den großen Grabenbruch im heutigen Ostafrika hätten unsere Vorfahren weder die ökologischen noch die klimatischen Bedingungen vorgefunden, die für ihre Entwicklung unverzichtbar waren.

Auch die Landschaft im Umfeld der Stadt Rosenheim weist eine lange Geschichte in erdhistorischen Zeiträumen auf. Eine Animation gibt Einblicke in entsprechende Prozesse. Vor 16.000 Jahren bildeten sich entsprechende Gewässer, als ein großer Gletscher abgeschmolzen war. Vom ursprünglichen See, der die gesamte Fläche des heutigen Ortes bedeckt hatte (und weit darüber hinaus), blieben nur noch einige Schwemmlandschaften übrig.

Die Ausstellung ist in vier Jahreszeiten eingeteilt. Doch nur die Winterzeit dauerte lang. Die lebensecht rekonstruierten Führer Urs und Lena hätten ein Lied davon singen können, wie mühsam es war, sich in den relativ kurzen Sommerzeiten wieder für die Kälteperiode zu rüsten. 

Die Eiszeitjäger, die die fast menschenleeren Räume Mitteleuropas durchstreiften, teilten diese Regionen mit einer spezifischen Flora und Fauna. Die letzte Phase des Pleistozäns kannte viele große und kleine Säugetiere. Etliche sind wirklichkeitsgetreu in der Ausstellung modelliert: Wollnashorn, Auerochse, Höhlenlöwe und Höhlenbär, Mammut, Elch, Flußpferd und andere. Dazu werden Häuser, Werkzeuge, Skelette und vieles mehr gezeigt. Weiter haben damals Flußpferde die Landschaften in Mitteleuropa besiedelt. Die Rekonstruktionen sind überaus eindringlich. Der Besucher fühlt sich so, als wäre er Teil einer längst ausgestorbenen Welt.

Der Höhepunkt der Präsentation, die sich über 1.500 Quadratmeter erstreckt, ist ein schon vor langer Zeit geborgenes Skelett: Der Mann von Neuessing lebte vor rund 34.000 Jahren. Solche Funde aus dieser Epoche sind begehrt, da sehr selten. In einer Klausenhöhle im bayerischen Landkreis Kelheim fand man seine Überreste 1913 im Rahmen privater Ausgrabungen. Erste chronologische Einordnungen erfolgten in den 1970er Jahren mittels der C14- oder Radiokarbonmethode. Mittlerweile liegen weitaus bessere Analysemöglichkeiten vor. Vor allem weiß man inzwischen um die Notwendigkeit, die Untersuchungen in speziellen Reinstlaboren durchzuführen. Die Erbmoleküle sind trotz der langen Lagerzeit relativ gut konserviert. Selbst Ernährungsgewohnheiten lassen sich heute herausfinden. Drei Milliarden Moleküle, die das menschliche Genom umfaßt, rekonstruierten die Fachleute bei dem Zeitgenossen aus dem frühen Gravettien. Das Ergebnis läßt sich mittels großartiger 3D-Aufnahmen visualisieren. Man könnte glauben, es handele sich um eine lebende Person, die dem Betrachter gegenübersteht. Manches Geheimnis wird wohl noch gelüftet werden. Die Paläogenetik dürfte auch in Zukunft eine breite Palette von neuen Analysemethoden hervorbringen. 

Ausstellungsmacher behelfen sich mit Untergangsrhetorik

Am Ende des Rundganges ist der Interessierte voll von Informationen rund um die facettenreiche Problematik. Zu dem Gelernten zählt die nicht überall bekannte Tatsache, daß auch wir Heutigen in einem Eiszeitalter, wenngleich in einem warmen, leben. Die hinreichende Definition dafür ist erfüllt: Die Erdpole sind vergletschert, und das werden sie auf unabsehbare Zeit bleiben – aller Kontroversen über die Erderwärmung zum Trotz.

Abschließend folgt der Sprung in die unmittelbare Gegenwart. Während die Eiszeitjäger ansteigende Temperaturen wohl begrüßt haben dürften, lösen sie im frühen 21. Jahrhundert bei vielen Menschen Ängste aus. Damals wie heute wurde es wärmer. Sind diese Prozesse als gleich zu werten? Sicherlich nicht. Seinerzeit waren es natürliche Klimaveränderungen, heute sind es hauptsächlich menschenbewirkte. So heißt es üblicherweise. Gern unterschlägt man die diversen Unterschiede. Wie die meisten Verkünder der vermeintlich unmittelbar bevorstehenden Klimakatastrophe sind auch die Initiatoren der Ausstellung nicht in der Lage zu erklären, wie denn die natürlichen Antriebskräfte klimatischen Wandels (Sonneneinstrahlung, Neigungswinkel der Erde, Meeresströmungen, Hoch- und Tiefdruckgürtel und so fort) gegenwärtig wirken. Wie verhalten sie sich zum zweifellos erhöhten weltweiten Kohlenstoffdioxid-Ausstoß und welches Gewicht kommt ihnen in diesem Kontext zu?

Natürliche Kreisläufe erscheinen in dieser Perspektive belanglos oder bloß peripher. Der Mensch wird als Natur- und Klimakiller gern auf die Anklagebank gesetzt. Man hat den Eindruck, er habe in einer solchen Perzeption die Stellung eines Schamanen, der problemlos in der Lage ist, über die Natur zu gebieten. Er befiehlt den Naturkräften, indem er das Klima reguliert, also praktisch Wärme an- wie abschaltet. Statt die ausstehenden Fragen zu thematisieren, behelfen sich die Rosenheimer Ausstellungsinitiatoren mit der gewohnten Untergangsrhetorik, die zusammen mit entsprechendem Bildmaterial präsentiert wird. Auch in diesem Kontext müssen die längst zur Berühmtheit gelangten Bären, die auf schmelzenden Eisblöcken sitzen, herhalten. So leicht, wie manche meinen, ist der Bogen von der ausgehenden Eiszeit zur gern vermuteten heutigen Heißzeit dann doch nicht zu schlagen.

Aber nicht nur das, was man im Inneren des Museums zur Thematik sieht, ist interessant. Auf dem Vorplatz des Lokschuppens ist ein lebensgroßes, aus Holz angefertigtes Mammut plaziert. Diese Skulptur schufen Schüler unter der Anleitung eines Künstlers. Die genaue Form ist aus Zufall entstanden – wie die Natur arbeitet. So erklärt es jedenfalls der Künstler in einem Interview. Ebenso ist für weitere Mitmachmöglichkeiten gesorgt. Die Eiszeit-Ausstellung hat für Jung und Alt viel zu bieten!

Die Ausstellung „Eiszeit“ ist bis zum 11. Dezember im Lokschuppen Rosenheim, Rathausstraße 24, täglich von 9 bis 18 Uhr, Sa./So. ab 10 Uhr, zu sehen. Der Eintritt kostet 15,50 Euro (Kinder ermäßigt). Telefon: 0 80 31 / 365 90 36

 www.lokschuppen.de

Fotos: Wissenschaftliche Gesichtsrekonstruktion des „Mannes von Neuessing“, basierend auf neusten Erkenntnissen: Archäologen entdeckten ihn in der Klausenhöhle im Altmühltal; Wollnashorn mit Jungtier und Höhlenbären-Gruppe (Rekonstruktionen), ausgestorben während der letzten Eiszeit: Das Aussehen der Tiere ist durch Mumienfunde und altsteinzeitliche Höhlenmalereien ziemlich gut bekannt