© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 41/22 / 07. Oktober 2022

Die harte energiepolitische Wirklichkeit wird immer schwerer zu leugnen
Warum Robert irrt
Rupert Pritzl

Jeden Tag hören wir in den Reden von Politikern und in den Kommentaren der Journalisten von „Zeitenwende“ und „Umbruch“ und davon, daß nun pragmatisch und entschlossen die wirklich drängenden Probleme angegangen werden sollten. Erst kürzlich fragte der Philosoph Peter Sloterdijk „Leben wir in einer Zeit des Wunschdenkens?“ Und Bundesaußenministerin Annalena Baerbock hatte am 24. Februar 2022, am Tag des russischen Angriffs auf die Ukraine, geäußert, daß „wir heute in einer anderen Welt aufgewacht sind“.

Aber ist es denn tatsächlich eine andere Welt? Oder sind wir nicht eher schlaftrunken aufgewacht aus jahrelangen Tagträumen, ideologisch gepflegten und moralisch hochgehaltenen Wunschvorstellungen und dem konsequenten Verleugnen der Realität („Realitätsillusion“) und haben uns wiedergefunden in einer energiewirtschaftlichen Realität mit einer fatalen Energieabhängigkeit von einem kriegerischen Autokraten im Kreml und Sabotageanschlägen auf die Energieinfrastruktur? Es wird dringend Zeit, daß wir uns ehrlich machen und vernünftig werden in unserer Klima- und Energiepolitik.

Hintergrund ist die erhebliche Diskrepanz zwischen der gefühlten und der tatsächlichen Wahrheit in der deutschen Energie- und Klimapolitik, die immer virulenter und drängender wird. Die gefühlte Wahrheit besteht dabei aus plausibel und angenehm klingenden Wunschvorstellungen und beschönigenden Umschreibungen, die aber mit naturwissenschaftlichen Gesetzmäßigkeiten und den realen Sachzusammenhängen, also der tatsächlichen Wahrheit, so gar nicht zusammenpassen. Aussagen im Koalitionsvertrag der Ampel-Regierung: „Die Erneuerbaren Energien dienen der Versorgungssicherheit“ (S. 56) spiegeln reines Wunschdenken wider und zeugen schlichtweg von Verkennung der energiewirtschaftlichen Wirklichkeit, solange die zentrale Frage der Energiespeicherung noch immer so fern ist wie vielleicht eine bemannte Marsmission.

Aus der Psychologie wissen wir, daß Wunschvorstellungen beeinflußt werden von der individuellen Betroffenheit und von persönlichen Nutzenüberlegungen sowie der sozialen Anerkennung innerhalb der eigenen Gruppe beziehungsweise Gesellschaft. Es ist daher verständlich, daß die Nutznießer der üppigen E-Mobil-Förderung, die Eigenheimbesitzer mit Photovoltaikanlage auf dem Hausdach und die Genossen von Bürgerenergieanlagen gerne an ihre gefühlte klimapolitische Wunschvorstellung glauben (möchten). Und je mehr und je breiter der Staat klimapolitisch motivierte Subventionen verteilt, desto mehr Menschen halten die staatliche Klimapolitik für wahr und richtig. Teilhaber und Nutznießer werden daher kaum widersprechen oder Kritik üben.

Bedauerlicherweise sind aber die tatsächliche Wahrheit und damit die Wirklichkeit eine ganz andere. Schon die am 11. Januar von Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck vorgelegte „Eröffnungsbilanz Klimaschutz“ war ein Offenbarungseid der gescheiterten deutschen Klimapolitik. Die euphemistische Formulierung darin lautet: „Die Ausgangslage könnte kaum herausfordernder sein“ (BMWK 2022, S. 2). Denn bedeutet das nicht – sieht man über die übliche Politikersprache hinweg – ein völliges Scheitern der bisher mit Hunderten von Milliarden Euro finanzierten Klimapolitik in Deutschland? Hat nicht der Sachverständigenrat schon im Jahr 2019 die deutsche Energie- und Klimapolitik als „ineffizient, kleinteilig, teuer und (weitgehend) wirkungslos“ bezeichnet? Und leiden wir in Deutschland nicht unter den höchsten Strompreisen in Europa und scheitern dennoch jedes Jahr an den selbstgesteckten Zielen der Emissionsminderung? Und stellen wir nicht umfangreiche Deindustrialisierungsprozesse von ca. 25 bis 45 Prozent in der Metallerzeugung, Papierindustrie und Baustoffindustrie in den vergangenen 25 Jahren in Deutschland fest?

Im Hinblick auf die „Eröffnungsbilanz Klimaschutz“ sollte man bedenken, daß Bundeskanzlerin Angela Merkel in ihrer Regierungszeit weitgehend die energie- und klimapolitischen Forderungen der Grünen umgesetzt hatte, was Robert Habeck ja nicht ohne Selbstbestätigung im Jahr 2018 freimütig eingeräumt hat. Mit der „Eröffnungsbilanz Klimaschutz“ setzt daher die Ampel-Regierung die bisherige Energie- und Klimapolitik noch ambitionierter und forcierter fort und strebt eine Verdoppelung und Verdreifachung der Ausbaugeschwindigkeit für erneuerbare Energien bis 2030 an. Frappierend, wie weit gefühlte Wahrheit und tatsächliche Wahrheit in der Klimapolitik auseinanderliegen und erstere dennoch handlungsleitend für die Politik war!

Hintergrund der Misere ist doch folgender: Deutschland hatte sich im Jahr 2011 mit seinem Alleingang in der Energiepolitik (Kernenergieausstieg bis 2022) ins energiepolitische Abseits befördert und international Vertrauenskapital verspielt. Deutschland hat mit dem Beschluß im Jahr 2019 zum Kohleausstieg seine dirigistische Energie- und Klimapolitik fortgeführt und alles auf die letztverbleibende Karte, nämlich auf den massiven Gasimport (aus Rußland) gesetzt. Gas wurde im Koalitionsvertrag vom 24. November 2021 sogar noch als „Brückentechnologie“ politisch geadelt und auf Betreiben Deutschlands in der EU-Taxonomie am 1. Januar 2022 als „klimaneutrale Energie“ – gegen den Widerstand der meisten anderen europäischen Länder – durchgesetzt. Das Entsetzen am 24. Februar war groß, als sich schlagartig offenbarte, daß Deutschland keine ausreichende Diversifikation im Energie-, insbesondere im Gasbezug, vorgenommen und über eine längere Zeit die Versorgungsrisiken völlig unterschätzt hatte. Es scheint, als habe die durch Scheuklappen verengte Energiepolitik in Deutschland die grundlegende Regel der Diversifikation und Vermeidung von Klumpenrisiken ignoriert, wofür ein Bankenvorstand sicher wegen Inkompetenz umgehend entlassen worden wäre. Die jüngsten Sabotageanschläge auf die Gaspipelines in der Ostsee unterstreichen noch einmal die fatale selbstverschuldete Energieabhängigkeit Deutschlands. Das stets mantrahaft verkündete energiepolitische Zieldreieck aus Versorgungssicherheit, Bezahlbarkeit und Umweltfreundlichkeit ist vollständig in sich zusammengefallen.

„Die Illusionen der Energiewendler platzen derzeit wie Luftballons“ (Alexander Eisenkopf). Es ist eine „Quadratur des Kreises“, eine ausreichend verfügbare, bezahlbare und klimafreundliche Energieversorgung zu erreichen und gleichzeitig auf die Energieimporte aus Rußland sowie auf Kohle- und Kernenergie verzichten zu wollen. Sieht so unsere angestrebte „nationale Energiesouveränität“ für den Industriestandort Deutschland aus mit einem gesinnungsethisch wohlmeinenden Ausbau von Wind- und Photovoltaikanlagen? Wie wird mit einem hohen Anteil volatiler Energien die Versorgungssicherheit am Industriestandort Deutschland gewährleistet, und wie steht es um die Hemmnisse von Fachkräfteknappheit, Flächennutzungskonkurrenz und gesellschaftlicher Akzeptanz bei einer verbreiteten „NIMBY“-Einstellung („Not in my backyard“; deutsch: „nicht in meiner Umgebung“) in der Bevölkerung? Wunsch und Wirklichkeit klaffen meilenweit auseinander. Hier fällt einem das Bild von Robert Habeck als dem Ritter „Don Quijote“ von der traurigen Gestalt ein, der – in völliger Verkennung der Realität – zwar nicht gegen Windmühlen, aber für mehr Windräder zu Felde zieht!

Der Ukraine-Krieg erweist sich als nicht mehr zu überhörender Weckruf aus den energiepolitischen Tagträumen Deutschlands. Oder ist es nicht ein Treppenwitz der energiepolitischen Geschichte, daß wir seit dem 24. Februar 2022 wieder verstärkt auf klimaschädliche Braun- und Steinkohle und auf die Exploration heimischer fossiler Energiequellen (Gas in der Nordsee und vielleicht auch Fracking für Schiefergas in Norddeutschland) setzen und nur mit konsequenter partei-ideologischer Diskussionsverengung beziehungweise -verweigerung ein pragmatisches Weiterlaufenlassen der Kernkraftwerke unterbinden?

Aber: Sind denn das nicht genau diejenigen Energieträger, aus denen wir mit unserer so moralisch-vorbildhaften „Energiewende“ seit 2010 auszusteigen versucht haben? Ist das nicht eine komplette Rolle rückwärts in der gesamten Energiewende in die Zeit vor 2010?

Es scheint sich aber immer noch nicht überall herumgesprochen zu haben, daß Klimapolitik ein „globales, nicht-ausschließbares Gemeinschaftsgut“ ist. Dies bedeutet, daß von der Reduzierung der Treibhausgasemissionen zwar weltweit alle Länder profitieren, aber kein Land durch nationale Maßnahmen zum Klimaschutz beitragen möchte. Die globale Problemnatur und die nationale Problemlösungskompetenz fallen auseinander, so daß internationale Kooperation der souveränen Staaten für einen wirksamen Klimaschutz essentiell ist. Aus der Verhaltensökonomik wissen wir, daß sich trotz intrinsischer und emotionaler Motivation auf lange Frist und nach Lerneffekten aber das rationale eigeninteressierte Verhalten angesichts der globalen Problemnatur der „Klimapolitik“ durchsetzen wird. Ziel muß es also sein, durch internationale Kooperation eine weltweit einheitliche CO2-Bepreisung als zentrales Lenkungsinstrument der Klimapolitik einzuführen. Daß die einzelnen Länder naturgemäß unterschiedliche Interessen haben, erschwert diese internationale Kooperation, was die Antrittsbesuche von Bundesaußenministerin Annalena Baerbock in Polen und Frankreich auch verdeutlicht haben.

Der Bundesrechnungshof mahnt in seinem jüngsten Bericht vom 24. März: „Alle Klimaschutzmaßnahmen müssen auf den Prüfstand: Ihr Fokus muß auf wirksamer und wirtschaftlicher Treibhausgas-Minderung liegen.“ Denn tatsächlich hat die Finanzierung der klimapolitischen Förderprogramme (bisher) kaum eine Rolle gespielt. Und bei CO2-Vermeidungskosten in Höhe von bis zu 2.400 Euro pro Tonne bei der staatlichen Förderung der E-Mobilität liegen wir um den Faktor 30 höher als beim EU-Emissionshandel von derzeit etwa 80 Euro pro Tonne. Wir brauchen daher dringend eine Neuausrichtung der Klimapolitik an der Kosteneffizienz, was schlichtweg maximale CO2-Einsparung pro ausgegebenem Euro bedeutet. Die Größe der klimapolitischen Herausforderung und die erheblichen unsozialen Verteilungswirkungen der Fördersubventionen und nicht zuletzt die zu befürchtenden erheblichen gesellschaftlichen Freiheitsbeschränkungen machen dies zwingend erforderlich.

Die Corona-Rezession lehrt uns, daß wir keine Verzichtskultur und keine Suffizienzvorstellungen brauchen, sondern vielmehr massive Investitionen in CO2-neutrale Technologien. Wir müssen neue klimafreundliche Produktions- und Energieerzeugungstechnologien entwickeln und weltmarktfähig machen. Hier sollte sich Deutschland als Technologieweltmeister zeigen und sich nicht weiterhin ostentativ als „Moralweltmeister“ inszenieren. Denn: Deutschlands Anteil am globalen Markt für Umwelt- und Effizienztechnologie liegt bei 14 Prozent, der Anteil Deutschlands an den weltweiten Treibhausgasemissionen dagegen bei 1,6 Prozent. Damit haben wir einen um ein Mehrfaches größeren Hebel, mit klimafreundlicher Technologie „Made in Germany“ zum Klimaschutz beizutragen. Und gleichzeitig schaffen wir damit Wertschöpfung, Wohlstand und Arbeitsplätze bei uns. Hans-Werner Sinn hat dies treffend formuliert: „Klimapolitische Selbstkasteiung bringt uns nichts.“

Wir brauchen auch deshalb mehr Forschung und Innovationen, weil trotz des massiven Investitionsbedarfs die Energiewende auf absehbare Zeit eben keine „Wachstumsstory“ ist. Die gut klingende Vorstellung: „Mehr Investitionen = mehr Wachstum“ ist eine Illusion. Denn wir machen eine funktionsfähige Technik obsolet und müssen dafür neue Techniken entwickeln, um am Ende die gleichen Produkte zu produzieren. Eine volkswirtschaftliche Rendite wird dies vielleicht in langfristiger Perspektive erbringen, sofern die übrige Welt mitspielt. Denn gäbe es mit der Energiewende zugleich eine Wachstumsdividende zu verdienen, hätten wir kein globales Koordinationsproblem in der Klimapolitik, sondern jedes Land würde freiwillig zum Klimaschutz beitragen. Gefühlte und tatsächliche Wahrheit passen leider nicht zusammen.

Es ist endlich an der Zeit, daß wir die Klimadiskussion in Deutschland ehrlich führen, uns von liebgewonnenen Wunschvorstellungen verabschieden und effiziente und wirksame Instrumente auswählen. Denkverbote darf es hierfür nicht mehr geben.






Dr. Rupert Pritzl, Jahrgang 1966, hat Volkswirtschaftslehre, Romanistik und Philosophie an den Universitäten Münster, Sevilla und Freiburg studiert. Seit 1997 ist er im Bayerischen Wirtschaftsministerium tätig und seit 2021 Lehrbeauftragter an der FOM Hochschule München. Er gibt seine persönliche Meinung wider.

Foto: Wirtschafts- und Klimaschutzminister Robert Habeck (Grüne): Sitzen im Deutschen Bundestag in Berlin Parlamentarier, die nach ihren Wünschen entscheiden statt nach den Realitäten?