© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 41/22 / 07. Oktober 2022

Keimzelle einer Erneuerungsbewegung
Vor 300 Jahren wurde der Grundstein für die an keine Konfession gebundene Herrnhuter Brüdergemeine in Sachsen gelegt
Paul Leonhard

Der entscheidende Tip kommt von einem Görlitzer Pfarrer. Der rät den Böhmischen Brüdern, Glaubensflüchtlingen, die aus Schlesien über die Neiße in die protestantische Stadt gekommen waren, weiter zu einem nahe lebenden aufgeschlossenen Grundbesitzer zu ziehen, der sie gewiß aufnehmen werde. Und tatsächlich kommen Nikolaus Ludwig Reichsgraf von Zinzendorf (1700–1760) die Fremden wie gerufen, träumt er doch von einer neuen Gemeinschaft von Menschen, die sich frei von Hierarchien dem gemeinsamen Leben mit Jesus in der Mitte verbunden fühlen.

Die Wurzeln der Herrnhuter reichen bis auf den böhmischen Reformator Jan Hus zurück, der auf dem Konzil von Konstanz im Jahre 1415 verbrannt wurde. Auch der Prediger und Theologe Petr Chelčický war ein Hussit, zerstritt sich aber nach dessen Tod mit dem Prager Hus-Nachfolger Jakobellus von Mies, der das Gotteswort in der Interpretation des Reformators auch mit dem Schwert verbreiten wollte. Petr Chelčický jedoch lehnte jede Gewalt ab. Seit 1420 lebte er zurückgezogen auf seinem Gut in Südböhmen und entwickelte in diversen Traktaten in alttschechischer Sprache, beeinflußt vom Briten John Wyclif (1330–1384), eine radikal pazifistische Vision des Christentums. Er postulierte die Gleichheit aller Christen, rief zu freiwilliger Armut auf, lehnte das Mönchstum ab, sprach sich gegen die Wehrpflicht aus und lehnte den Eid ab. Trotz ihrer Verfolgung wuchs die Zahl der Anhänger weiter an, so daß diese sich 1467 eine Ordnung mit Priestern und einem Bischof gaben. Und trotz der fast völligen Vernichtung der Bruderschaft während des Dreißigjährigen Krieges konnte sie sich an verschiedenen Orten zwischen Schlesien, Mähren und Ungarn bis zur Gegenreformation unter den Habsburgern halten.

Die Ablehnung von Hierarchien findet schnell viele Anhänger

Die vor der Rekatholisierung schließlich aus Mähren geflüchteten Böhmischen Brüder werden von Zinzendorf aufgenommen. Dieser sorgt dafür, daß diese auf Berthelsdorfer Flug eine Siedlung gründen können. Am 17. Juni 1722 wird dafür an der Landstraße zwischen Löbau und Zittau der erste Baum gefällt, am 13. August 1727 bei einer Abendmahlsfeier eine Gemeinde gegründet. Letzteres steht zwar im Widerspruch zu den Ansichten Zinzendorfs, der keine Freikirche gründen, sondern die pietistische Kolonie in der bestehenden Parochialgemeinde Berthelsdorf integriert sehen will, aber die Gemeinschaft entwickelt schnell ein Eigenleben und wird zum „Sammelbecken frommer Seelen unterschiedlicher konfessioneller Prägung“.

Die „Gemeinschaft von Brüdern“ („Unitas Fratrum“) nennt ihre Siedlung – weil „unter des Herrn Hut“ stehend – Herrnhut. Damals ahnt wohl keiner, daß sie zur Keimzelle einer heute die Welt umspannenden kirchlichen Erneuerungsbewegung werden sollte, die gegenwärtig in mehr als vierzig Ländern auf fünf Kontinenten aktiv ist und deren zahlenmäßig größte Gemeinde Tansania ist. Deutschland gehört neben den Niederlanden, der Schweiz, Dänemark, Estland, Lettland und Albanien zu Kontinentaleuropa, einer von drei europäischen Provinzen (die anderen sind Tschechien und Großbritannien) der in insgesamt 29 Provinzen gegliederten „Brüdergemeine“ – die Herrnhuter haben bis heute die alte Schreibweise ohne „d“ beibehalten.

Als alle Gemeinen verbindendes Symbol wählen die ersten Herrnhuter das bereits aus dem Mittelalter bekannte, die Siegesfahne tragende Lamm Gottes. Die Siegesfahne wiederum erinnert an die Auferstehung und die Überwindung des Todes. Jesus gilt den Herrnhutern als das allein Verbindende, nicht die jeweilige Konfession. Allerdings dauert es auch in der neuen Siedlung einige Zeit, bis die Anhänger einander tolerieren, ein gemeinsamer Miteinander gefunden wird. Zwei Jahre lang belasteten schwere Auseinandersetzungen die junge Gemeinde. Die Idee der Gleichheit aller Menschen und die Ablehnung von Hierarchien findet schnell viele Anhänger in Gläubigen, die zwar in der lutherischen Kirche der Reformation bleiben wollen, sich aber nach freieren Formen sehnen. Schnell bildeten sich in Deutschland und bald in anderen Ländern neue Gemeinden.

Ab 1732 beginnen die Herrnhuter mit einer ausgeprägten Missionstätigkeit. Erste Brüder reisen zu Plantagensklaven in die Karibik. 1733 entsteht auf Grönland eine Mission. Ab Mitte des 18. Jahrhundetrs sind die Brüder und Schwestern der Unität insbesondere in Afrika sowie Mittel- und Nordamerika aktiv. Zu diesem Zeitpunkt (1736) ist Zinzendorf aus dem Kurfürstentum Sachsen bereits verbannt. Die Herrnhuter Brüdergemeine ist der lutherischen Orthodoxie zu selbständig geworden und wird als Bedrohung der einheitlichen sächsischen Landeskirche angesehen. Die Siedlung Herrnhut entwickelt sich trotzdem weiter und wächst zu einem kleinen Städtchen heran.

Ein zweites Symbol der Brüdergemeine, das speziell Atheisten viel bekannter ist als das Lamm, ist der Herrnhuter Stern. Erfunden wird er Anfang des 19. Jahrhunderts von einem Lehrer der Brüderkolonie im niederschlesischen Niesky, das heute wie Herrnhut zum sächsischen Landkreis Görlitz gehört. Gebaut mit 25 Spitzen, 17 vier- und dreieckigen Zacken leuchtet er heute weltweit als Weihnachtsstern in vielen Wohnungen und auf kommunalen Plätzen. Auch wenn nicht jeder die Botschaft der Herrnhuter kennt, so spürt er sie doch unbewußt: Der Stern strahlt für alle Menschen, egal, welcher Religion, Kultur oder Nation sie angehören. Und er steht für Hingabe, Schutz und Hoffnung.

Von 1,25 Millionen Anhängern leben nur noch 22.800 in Europa

Weltberühmt sind auch die aus je einem Bibelvers aus dem Alten und dem Neuen Testament bestehenden „Losungen“, die die Herrnhuter jedes Jahr in mehr als fünfzig Sprachen herausgeben. Der alttestamentarische Vers wird dabei ausgelost und durch einen thematisch passenden anderen sowie durch einen Liedtext ergänzt. Diese Tradition ist direkt auf Zinzendorf zurückzuführen, der nach dem Gottesdienst den Gläubigen eine „Losung“ mit auf den Heimweg gab, die ihnen Halt im Alltag geben und sie zum Glauben inspirieren sollte.

„Mission ist keine Einbahnstraße“, heißt es aus Anlaß des 300jährigen Gründungsjubiläums auf der Internetseite der Herrnhuter: seitens der Missionshilfe. „Die zahlenmäßig kleiner werdende Christenheit im alten Europa braucht Impulse aus den wachsenden Kirchen des Südens.“ Im Zeitalter der Globalisierung müßten alle gemeinsam den Sendungsauftrag Christi erfüllen und die Verkündigung des Evangeliums besitze dabei denselben Stellenwert wie der Einsatz für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung. Von den weltweit rund 1,25 Millionen Brüdern und Schwestern leben gerade noch rund 22.800 in Europa, davon um die 540 in Herrnhut. Angesichts der geringen Mitgliederzahl im Gründungsort kennen sich dort die Mitglieder tatsächlich persönlich und können vorleben, wie sich Herrnhuter in allen Lebenslagen gegenseitig stützen. Die Brüder-Unität, die kein eigenes Bekenntnis hat, sondern sich mit anderen Kirchen zu Jesus Christus als ihrem Herrn und Heiland bekennt, ist als selbstständige ökumenisch offene Kirche in die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) eingegliedert und zugleich Gastmitglied in der Vereinigung Evangelischer Freikirchen (VEF). Da sie keine Kirchensteuer erhält,  lebt die Brüder-Unität von Mitgliedsbeiträgen und Spenden. Im Jubiläumsjahr hilft auch das Bundesfinanzministerium ein wenig: Ende November erscheint eine 22 Gramm schwere Feinsilber-Münze im Wert von 25 Euro mit dem Herrnhuter Stern. Zuvor treffen sich aber noch die Archivare der Brüder-Unität aus aller Welt zu einer Konferenz, und auch das reichhaltige Musikprogramm dürfte viele Neugierige nach Herrnhut locken.

Fotos: Nikolaus von Zinzendorf, Begründer der Herrnhuter Brüdergemeine, trifft 1742 Irokesenhäuptlinge: Ausgeprägte Missionstätigkeit; Zinzendorf-Haus der Herrnhuter Diakonie: Frei von Hierarchien mit Jesus in der Mitte; Evangelische Brüdergemeine Berlin-Neukölln: Herrnhuter Stern und Losung sind weltbekannt; Gläubige der Herrnhuter-Gemeinde in Surinam: Große Popularität außerhalb Europas