© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 41/22 / 07. Oktober 2022

Die Gegen-FdJ
Im Oktober 1952 geriet der antikommunistische Bund Deutscher Jugend ins Visier der Politik / Vorherige staatliche und alliierte Unterstützung wurde eingestellt, die Organisation löste sich auf
Karlheinz Weißmann

Am 9. Oktober 1952 löste der hessische Ministerpräsident Georg-August Zinn (1901–1976) mit einer Pressekonferenz den ersten Politskandal der Bundesrepublik aus. Denn er behauptete, es sei in Westdeutschland eine Untergrundarmee entstanden. Zwecks Tarnung trage sie die harmlose Bezeichnung Bund Deutscher Jugend (BDJ). Sie solle im Fall einer sowjetischen Besetzung aktiv werden, plane aber gleichzeitig, unliebsame politische Persönlichkeiten – vor allem Sozialdemokraten wie Zinn – aus dem Weg zu räumen. Die Behauptung, daß der BDJ „Liquidationslisten“ geführt habe, findet sich bis heute in allen Veröffentlichungen zum Thema und dient als Beleg dafür, daß unmittelbar nach 1945 ein militanter Neofaschismus oder sogar Rechtsterrorismus entstand, der nur durch beherztes Eingreifen daran gehindert werden konnte, seine mörderische Wirkung zu entfalten.

Die Realität sah wesentlich prosaischer aus. Der BDJ war am 23. Juni 1950 gegründet worden. Gemäß seinem Programm trat er für die Wiedervereinigung, die Stärkung des demokratischen Staates und den Zusammenschluß Europas ein. Man unterstützte den Aufbau einer eigenen Streitmacht und die Allianz mit den USA. Über die Zahl der Mitglieder besteht keine Klarheit; die Eigenangabe lag mit 16.000 (September 1950) und 17.500 (Anfang 1951) hoch, die Schätzung aus Geheimdienstkreisen von etwa 700 Personen erscheint dagegen zu niedrig. In jedem Fall besaß der BDJ erhebliche Geldmittel, die Kreise der Wirtschaft und das Ministerium für gesamtdeutsche Fragen zur Verfügung gestellt haben werden. Die wichtigste Ursache für die Unterstützung durch Regierungsstellen waren die Auswirkungen des Kalten Krieges, vor allem im Hinblick auf die Subversionsmaßnahmen der DDR.

Anders als die westlichen Besatzungsmächte hatte die Sowjetunion früh den Aufbau einer großen Jugendorganisation – der Freien Deutschen Jugend (FDJ) – gefördert, die man ab 1948 einer konsequenten Stalinisierung unterwarf, die sie zur „Kaderreserve“ der SED umbaute. Damit einher gingen Uniformierung, vormilitärische Schulung und eine Indoktrination, in deren Zentrum der Kampf gegen „imperialistische und revanchistische Kräfte“ stand. Sichtbaren Ausdruck fand dieses Selbstverständnis Pfingsten 1950 mit der Aktion „Freie Deutsche Jugend stürmt Berlin“, einem Demonstrationsmarsch mehrerer zehntausend Teilnehmer vom Ostteil der Stadt aus, der nur mit Mühe an der Sektorengrenze aufgehalten werden konnte.

Obwohl die FDJ ihrem Anspruch nach eine „reichsweite“ Organisation war, existierte neben ihr eine Freie Deutsche Jugend in Westdeutschland (FDJW) mit bis zu 20.000 Mitgliedern und starker Basis in der Gewerkschaftsjugend. Die konnte allerdings so wenig selbständig agieren wie ihre Mutterpartei KPD im Verhältnis zur SED und wurde permanent durch „Instrukteure“ aus dem Osten überwacht. Gleichzeitig schuf sie eine Reihe von Tarnorganisationen, die helfen sollten, die „Bündnispolitik“ der Kommunisten auszuweiten, vor allem im Hinblick auf linke Gruppen am Rande oder außerhalb der SPD, Pazifisten und Neutralisten, mit denen man gegen die „Kriegspolitik“ der „illegitimen“ oder gleich „faschistischen“ Regierung Adenauers vorgehen wollte. Parallel dazu begann die Nationale Volksarmee auf FDJW-Strukturen zurückzugreifen, um junge Bundesbürger für eine „Untergrundtruppe“ zu rekrutieren, die im Fall eines Konflikts zwischen Warschauer Pakt und Nato hinter den feindlichen Linien operieren, Attentate und Sabotageakte durchführen sollte.

Weder diese Art der Kriegsvorbereitung noch die Wirkung der „Verängstigungs- und Einschüchterungspropaganda“ – so die Formulierung in einem Bericht der US-Hochkommission – blieben im Westen unbemerkt und führten offenbar zu dem Plan, den Bund Deutscher Jugend als eine Art Gegen-FDJ zu etablieren. Seine Entstehung unmittelbar nach dem „Sturm“ auf Berlin war so wenig Zufall wie die Tatsache, daß zeitgleich ein halbes Hundert antikommunistischer Organisationen entstand, die alle von bundesdeutschen und US-amerikanischen Stellen finanziert wurden. Mit ihnen gemeinsam hatte der BDJ auch die Entschlossenheit, den Befreiungskampf in den Ostblock zu tragen und dort die Systemopposition zu unterstützen. In der DDR sorgte er für die Verteilung illegaler Flugblätter, die zum Sturz des SED-Regimes aufriefen, und organisierte einen Widerstandskreis deutscher Jugend.

In erster Linie konzentrierte sich der Bund aber darauf, für die neue Ordnung des Grundgesetzes, für einen eigenen Wehrbeitrag und die Westbindung zu werben, Veranstaltungen der KPD und FDJW zu stören, deren Werbetätigkeit zu behindern und die Namen ihrer heimlichen Unterstützer öffentlich zu machen. Der BDJ ging zwar auch gegen die rechtsextreme Sozialistische Reichspartei (SRP) vor, aber im Zentrum seines Antitotalitarismus stand ohne Zweifel der Antikommunismus. Das erleichterte auch den Kontakt zu den Nachwuchsorganisationen etablierter Parteien, vor allem den Jungdemokraten, die der FDP angegliedert waren.

Amerikaner planten, aus dem BDJ Stay-behind-Organisation zu formen

Mißtrauisch begegnete man dem BDJ allerdings von sozialdemokratischer Seite. Dazu trug nicht nur die Zahl ehemaliger Offiziere von Wehrmacht und Waffen-SS in der Bundesspitze bei, sondern auch die einheitliche Kluft der Mitglieder bei öffentlichen Veranstaltungen, die den Eindruck stärkte, daß es sich um einen paramilitärischen Verband handele. Diese Annahme hatte durchaus einen rationalen Kern. Der wurde sichtbar, als Paul Lüth (1921–1986), Mediziner, Aktivist und Initiator des Bundes, eine Broschüre mit dem Titel „Bürger und Partisan“ veröffentlichte, in der er feststellte, daß unter den gegebenen Umständen nur „die Macht (…) den Frieden“ gefährde, „die seit 1939 unablässig ihr Reich vergrößert hat, durch ständig neue Annexionen: die Sowjetunion!“ Angesichts der Expansionspolitik Stalins in Ost- und Ostmitteleuropa sei ein Angriff auf das Bundesgebiet und dessen Besetzung denkbar, weshalb man sich darauf vorbereiten müsse, im Ernstfall einen Guerillakampf gegen die sowjetischen Okkupanten zu entfesseln.

Den Vorstoß der hessischen Landesregierung im Herbst 1952 hatte die Mitteilung ausgelöst, daß im Rahmen des BDJ ein geheimer Technischer Dienst (TD) bestand, dessen Angehörige eine Wehrausbildung erhielten und auf Waffenlager zugreifen konnten. Das war nur möglich, wenn die Zustimmung der Besatzungsmächte vorlag, und tatsächlich hatte der amerikanische Militärgeheimdienst CIC (Counter Intelligence Corps) den Plan gefaßt, aus dem TD eine Stay-behind-Organisation zu machen. Derartige Verbände bildeten die USA damals in jenen Teilen ihres Machtbereichs, die sie nach dem Ausbruch des Koreakrieges für besonders gefährdet hielten. Sie sollten als „Kleinkampfgruppen“ bei einer sowjetischen Invasion hinter den feindlichen Linien operieren.

Dieter von Glahn (1923–1997), einer der Führer des TD, hat in seinen Lebenserinnerungen nachgezeichnet, wie eng seine Organisation in der relativ kurzen Zeit ihres Bestehens nicht nur mit amerikanischen, sondern auch mit westdeutschen Behörden des Sicherheitsbereichs zusammengewirkt hat: etwa dem Amt Gehlen, das den Aufbau des Bundesnachrichtendienstes, und dem Amt Blank, das den Aufbau der Bundeswehr vorbereitete. Was den Vorstoß Zinns in ein neues Licht rückt. Wahrscheinlicher als echte Sorge vor einem Angriff auf die Verfassungsordnung durch BDJ und TD sind eher eine Reihe taktischer Motive. Dazu gehörte Zinns Bemühen, die Ohne-mich-Haltung in Teilen der Bevölkerung für den hessischen Landtagswahlkampf auszunutzen. Jedenfalls war seine Attacke „mehr gegen die Bundesregierung und vor allem gegen die Amerikaner gerichtet …, als gegen den ‘Technischen Dienst’“ (Ernst Nolte).

Die stärkste Wirkung zeigte dabei die erwähnte Behauptung, der TD beziehungsweise BDJ führe „Liquidationslisten“. Dessen Klarstellung, man habe einerseits Verzeichnisse mit den Namen potentieller Kollaborateure im Fall einer sowjetischen Besetzung angelegt, andererseits die Namen derer zusammengetragen, die schnellstens in Sicherheit gebracht werden müßten – darunter zahlreiche Sozialdemokraten –, verfing nicht. Vielmehr kam es in der Presse und den Parlamenten zu einer hitzigen Debatte, die über Wochen andauerte. Die Justiz ergriff erste Maßnahmen gegen den BDJ, und die offiziellen Stellen zogen ihre Unterstützung zurück. Relativ hochrangige Bonner Politiker wie Kurt-Georg Kiesinger von der CDU oder Wolfgang Mischnick von der FDP, die noch beim großen Pfingsttreffen des BDJ 1952 in Frankfurt am Main gesprochen hatten, distanzierten sich jetzt. Das Verbot von BDJ und TD in Hessen und dann in anderen SPD-regierten Ländern erzwang letztlich die (Selbst-)Auflösung des Bundes.

Nur die US-Behörden in Westdeutschland sorgten weiter für eine gewisse Deckung. Sie sicherten Waffenlager und Dokumente gegen polizeiliche Beschlagnahme. Gleichzeitig boten sie strafrechtlich  belangten Führern des Bundes die Übersiedlung in die USA an, die diese aber ablehnten, weil sie ihre rasche Rehabilitierung erwarteten. Eine vergebliche Hoffnung, wie sich zeigen sollte, obwohl gerichtlich festgestellt wurde, daß es weder für eine staatsfeindliche Tätigkeit von BDJ und TD, noch für das Vorhandensein von „Liquidationslisten“ irgendwelche Beweise gab. Bezeichnenderweise ging Lüth in die SPD und konzentrierte sich auf seinen Beruf als Arzt und akademischer Lehrer, blieb aber auch publizistisch tätig, während Glahn zuerst der FDP, dann der CDU, dann den Republikanern beitrat und später in verschiedenen kleinen konservativen Gruppierungen aktiv war. Trotzdem bleibt bis heute der Ruch, daß der Bund Deutscher Jugend und sein Technischer Dienst dem Zweck gedient hätten, eine „rechtsextreme Partisanenorganisation mit Strukturmerkmalen der Freikorps“ (Wikipedia) aufzubauen.

Fotos: Plakat des Bundes Deutscher Jugend zum Deutschlandvertrag zwischen der Bundesrepublik und den westlichen Besatzungsmächten im Frühjahr 1952: Im Ernstfall einen Guerillakampf gegen die sowjetischen Okkupanten entfesseln; Appell beim BDJ-Bundeslager Pfingsten 1952 in Frankfurt am Main: Die Politiker Kurt Georg Kiesinger (CDU) und Wolfgang Mischnick (FDP) traten als Redner auf