© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 41/22 / 07. Oktober 2022

Wenn das Recht in Schieflage kommt
Richter Thorsten Schleif klagt das Versagen des bundesdeutschen Justizsystems an und benennt systemimmanente Schwächen
Günter Scholdt

Kein Zweifel, auch die Judikative als tragende Säule unserer Staatsform wankt bedenklich, und scharfe Kritik tut not. Da darf die Mahnung eines Insiders wie Thorsten Schleif in seinem Buch „Wo unsere Justiz versagt“ auf Interesse rechnen, zumal ihm der Ruf vorauseilt, kein Blatt vor den Mund zu nehmen. Der Klappentext stützt solche Erwartung und präsentiert einen Verfasser, der „anhand von 16 brisanten Fällen die ganze Bandbreite von Justizversagen in Deutschland“ aufzeige. „Seine spannenden Geschichten“ verdeutlichten: „Das Versagen ist noch viel größer als gedacht!“ 

Letzteres stimmt gewiß. Doch ging mir beim Lesen des so reißerisch Angepriesenen und angesichts mancher selbstverliebt literarisierenden Attitüde des Autors die bekannte Frage nicht aus dem Kopf: Ist ein zu 50 Prozent gefülltes Glas halb voll oder halb leer? Positiv zu Buche schlägt die fundierte Kritik eines Praktikers an etlichen skandalösen Handlungsvoraussetzungen unserer Justiz. Schleif benennt die vielfach unzureichende Ahndung von Gewalt gegen Polizisten (84.831 Delikte allein im Jahr 2020), Raubtaten, sexuellem Mißbrauch von Kindern oder illegalen Straßenrennen. Er bestätigt eine zur Farce verkommene Abschiebepraxis selbst bei Mehrfachtätern, die sich entsprechenden Terminen entziehen und dabei noch besser fahren als gesetzeskonforme Immigranten. Was über Messermänner hierzulande und deren geringfügige Bestrafung zu lesen ist, sollte schockieren. Erfahren wir doch zudem von einer Quasi-Kumpanei der Justiz. Landgerichte drücken sich systematisch vor solchen Fällen und torpedieren somit angemessene Strafen, während Amtsgerichte, durch Revisionen demotiviert, häufig im untersten Bereich der Sanktionsskala bleiben. Stattdessen wünscht Schleif die viel gründlicher verfolgten Delikte Fahrerflucht und Schwarzfahren neu zu bewerten, zum Beispiel als Ordnungswidrigkeiten. Haschisch sollte legalisiert werden. 

Rechtsstaatsfeindliche Aktionen infolge einer Corona-Justiz

Wie man das auch einschätzen mag, unstreitig dürfte sein, daß zahlreiche weitere Mißstände gar nicht vorkommen – allem voran ein partieller Rechtsinfarkt durch strukturelle Überlastung sowie die zunehmende Etablierung einer Gesinnungsjustiz. Die übersieht, wenn Regierungskritiker quasi zu Staatsfeinden gestempelt, verhaftet oder per Verfassungsschutz eingeschüchtert werden. Neuerdings reichen dazu dann so schwammige Begründungen wie „verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates“ aus. Daß man der Opposition ihr zustehende Ämter und Gelder verweigert oder sie zivilgesellschaftlich über Gebühr peinigt. Daß Globalagenden Grundrechte aushebeln oder EU-Recht unsere Verfassung und internationale Abmachungen ignoriert.

Bei der Richter-Ausbildung vermißt Schleif entscheidungspsychologische Schulung. Auch sie begründe die von ihm immerhin gerügten Urteile in Abhängigkeit der Justiz von Regierungen oder Ministern. Handfester erklärte sich der Mißstand, indem man die dahinterstehenden postdemokratischen Handlungsprämissen erläutert bzw. überhaupt zur Kenntnis nimmt. Erörterungswürdig wären auch die rechtsstaatsgefährdenden Machenschaften diverser Justiz- und Innenminister von Heiko Maas bis Nancy Faeser, die in ihrem Eifertum „gegen Rechts“ unrühmliche Justizgeschichte schrieben bzw. schreiben. 

Stattdessen setzt Schleif Textmarkierungen im Sinne einer nicht gänzlich zu verstellenden Karriereplanung. Dazu gehört die aufgebauschte „Reichsbürger“-Gefahr, die bezeichnenderweise auch noch unter dem denunziatorischen Titel „Heim ins Reich“ rubriziert und beispielhaft für das Unwesen von Polizistenmorden firmieren soll. Hinzu kommt eine sich spöttisch absichernde Verharmlosung der Folgen von Massenimmigration: „So bleibt abschließend nur noch die Frage zu beantworten: Wie heißen die Messermänner? Ich möchte ganz offen sein: Wie Messermänner heißen, wo sie herkommen, welche Religion sie haben, welche Schuhgröße (…) es interessiert mich als Strafrichter herzlich wenig. Das Gesetz unterscheidet weder nach Geschlecht noch nach der Farbe der Haut oder der Religion und auch nicht nach dem Vor- oder Nachnamen. Ein Messerstecher bleibt ein Messerstecher. Oder, um es mit den messerscharfen Worten des großartigen Kabarettisten Volker Pispers zu sagen: ‘Ein Arschloch ist ein Arschloch. Fertig. Aus.’“ 

So einfach ist das, wenn sich ein sonst so kluger Richter mal ein wenig dumm stellt. Denn er wenigstens könnte wissen, daß es vor Jahrzehnten in Deutschland keine vergleichbare Messerstecher-„Kultur“ gegeben hat. Doch opportuner ist gewiß ein weiteres wokes Signal: Schildert er doch einen kompetenten fremdstämmigen Richteraspiranten, der durch die Clique „alter Säcke“ wegen alberner Vorwürfe über Internetposts (Foto auf dem Schießstand, Rapmusik) vom Justizdienst ferngehalten wird. Das mag es unter Bornierten ja tatsächlich mal geben. Aber die Mehrzahl der Fälle beruflichen Mobbings trifft hierzulande doch Bewerber, die man, und sei es per Rufmord, auch nur ansatzweise „rechter“ Sympathien verdächtigt. 

Einiges macht der Verfasser im zweiten Teil wieder gut, wo er sich über die Corona-Justiz ausläßt  und dabei auch gegensätzliche Lockdown-Entscheidungen des Bayerischen bzw. Bundesverfassungsgerichts anprangert. Er geißelt entsprechende rechtsstaatsfeindliche Aktionen (Hausdurchsuchung bei einem Weimarer Familienrichter) in gebührender Deutlichkeit. Diese deutlich geäußerte Kritik erlaubt als Fazit, daß das Schleifsche Glas halb voll sein dürfte.






Prof. Dr. Günter Scholdt ist Historiker und Germanist und war Leiter des Literaturarchivs Saar-Lor-Lux-Elsaß. 

Thorsten Schleif: Wo unsere Justiz versagt.Von Messerstechern, Kinderschändern und Polizistenmördern. Ein Richter deckt auf. Riva Verlag, München 2022, gebunden, 224 Seiten, 20 Euro