© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 41/22 / 07. Oktober 2022

Treffende Analysen ohne Schaum vor dem Mund
Der Münchner Slawist seziert westliche Fehldeutungen über die erstarkenden nationalkonservativen politischen Kräfte im östlichen Europa
David Engels

Man reibt sich die Augen und faßt es nicht: Ein 500seitiges Buch zum politisch wohl umstrittensten Thema der letzten Jahrzehnte, und dem Autor, dem Münchner Lehrbeauftragten für Südslawische Landeskunde an der LMU München und ausgewiesenen Kenner politischer Ideologien Marc Stegherr, ist es gelungen, durchweg sachlich und unaufgeregt zu bleiben. Während man es ansonsten leider gewohnt ist, daß linksliberale Autoren alles Konservative unter faschistoiden Generalverdacht stellen, während konservative Publizisten der Linken durchweg kollektivistische Verschwörungstheorien unterstellen, gelingt Stegherr die schwere und sicherlich auch oft genug nervenzerreibende Balance zwischen Realismus und wissenschaftlicher Neutralität.

Aber zur Sache. Im Zentrum des Buches steht nichts weniger als der ambitionierte Versuch, die ideologische Entwicklung der letzten Jahrzehnte mit besonderem Fokus auf den Osten Europas nachzuvollziehen. Zu diesem Zweck betrachtet Stegherr zunächst die allgemeine, politische und intellektuelle Situation des „Neuen Kulturkampfs“ um die mediale und akademische Deutungshoheit der Ereignisse. Hierbei macht er deutlich, wie sehr das klassische konservative (meist christdemokratische) Establishment nach und nach linke Positionen übernommen und somit ein massives Vakuum auf der rechten Seite des politischen Spektrums geschaffen hat. Dort tummeln sich nunmehr verschiedenste Schattierungen konservativer Bewegungen, die trotz ihrer gewaltigen ideologischen Unterschiede (christlich vs. laizistisch; liberal vs. sozial; national vs. abendländisch) in den Medien meistens über einen Kamm geschoren und sozial ostrakisiert werden – was ihren Zulauf langfristig nur verstärkt. 

Gegen Teilung Euopas in „liberalen Westen“ und „illiberalen Osten“

Daraufhin analysiert Stegherr die graduelle Teilung Europas in einen „liberalen“ Westen und ein angeblich „illiberales“ Osteuropa. Dabei kommt vor allem der Flüchtlingskrise von 2015 eine zentrale Rolle zu, aber auch der Tatsache, daß aufgrund der völlig anderen historischen Erfahrungen des 19. Jahrhunderts und des Traumas des sozialistischen Totalitarismus im Osten konservative Positionen nicht etwa, wie im Westen, als „gefährlich“, ja gar proto-faschistisch gelten, sondern vielmehr als Garanten politischer Freiheit und nationaler demokratischer Autonomie. 

In einem dritten Teil behandelt Stegherr den „(un)aufhaltsamen Aufstieg der Populisten“ nicht nur in Osteuropa, sondern überall im Westen, der in der medialen und politischen Debatte um die Covid-Krise seine bisherige Kulmination fand. Ein Schlußwort versucht dann, „Auswege aus der Spaltung“ zu zeigen – ein wohlgemeinter und sehr zu begrüßender Versuch, gerade moderate konservative Stimmen zu Worte kommen zu lassen, denen an einer erneuten Versöhnung des Kontinents unter dem Primat des konstruktiven Umgangs mit Geschichte und Tradition und des inneren Burgfriedens angesichts der zahlreichen äußeren Bedrohungen des Kontinents gelegen ist (und der Rezensent, der sich in diesem Kontext regelmäßig zitiert wiederfand, wird hier dem Autor kaum widersprechen …).

Insgesamt also ein überaus empfehlenswertes Buch, äußerst dicht dokumentiert mit unzähligen Medienartikeln aus aller Welt, was eine Sisyphos-Arbeit darstellt, und gleichzeitig erfolgreich bemüht, Generalisierungen und Systematisierungen zu vermeiden, indem jedesmal vom konkreten Kontext aus argumentiert wird. Ein kleiner Wermutstropfen: Ein Namensindex wäre überaus hilfreich gewesen.






Prof. Dr. David Engels lehrte Römische Geschichte in Brüssel und forscht am Posener West-Institut. 

Marc Stegherr: Der Aufstand der Populisten. Die Krise des liberalen Westens und die nationalkonservative Wende Osteuropas. Springer Wissenschaftsverlag, Wiesbaden 2022, broschiert, 500 Seiten, 54,99 Euro