© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 42/22 / 14. Oktober 2022

Hoch auf dem Roß und tief gefallen
Landtagswahl: In Niedersachsen wechselt die Koalition, aber nicht der Landesvater / Rekordgewinne für AfD / FDP fliegt aus dem Parlament
Jörg Kürschner/ Christian Vollradt

Vier Landtagswahlen nach der Bundestagswahl 2021 wachsen bei FDP und CDU die Zweifel an ihrem politischen Kurs, während sich insbesondere die Grünen, aber auch die SPD bestätigt fühlen und die AfD nach der Niedersachsenwahl von einer Trendwende spricht. 

Besonders groß sind die Fragezeichen in der Parteizentrale der FDP. Zweimal aus Landesregierungen geflogen (Nordrhein-Westfalen, Schleswig-Holstein), im Saarland erneut an der Fünfprozenthürde gescheitert und am vergangenen Sonntag in Niedersachsen mit 4,7 Prozent den Wiedereinzug in den Landtag verpaßt. In der FDP fielen die Reaktionen unterschiedlich aus. Parteichef Christian Lindner will die „einzige Partei der Mitte“ programmatisch stärker konturieren, verwies auf den nächsten Bundesparteitag im Frühjahr 2023, gelinge es doch derzeit nicht, ausreichende Unterstützung für das „klare Profil der FDP“ zu finden. 

Die Partei nach rechts zu rücken, wäre „kein guter Rat“, mögen auch 40.000 Wähler von der FDP zur AfD gewechselt haben. Das ist der höchste Einzelverlust der Liberalen. Wieder einmal konnte die Partei bei jungen Wählern punkten, bei ihrer Kernklientel, den Selbstständigen, sackte sie erneut ab. Parteirebell Frank Schäffler, ein Dauer- Kritiker Lindners: „Die Ampel-Koalition hängt wie ein Mühlstein um unseren Hals. Wir verlieren zunehmend unsere marktwirtschaftliche Glaubwürdigkeit. Die FDP muß mutiger werden und den Rücken gerade machen“. Doch Lindner stellte demonstrativ klar: „Ich führe die FDP.“ 

Unverändert Kurs halten dürfte schwierig werden angesichts der inhaltlichen Verwerfungen in der Ampel-Koalition. Auch hakt es persönlich im Kabinett, etwa zwischen Lindner und dem Grünen Robert Habeck, den Ministern für Finanzen und Wirtschaft. Keine guten Voraussetzungen in Krisenzeiten. „Die Ampel insgesamt hat an Legitimation verloren“, reicht der FDP-Chef die Verantwortung für die Wahlschlappe in Hannover weiter. Steigen die Liberalen aus dem Bündnis aus? Das wäre wegen der Krisen „unverantwortlich“, meint immerhin Partei-Vize Wolfgang Kubicki, ein steter Kritiker der Ampel. Das Regieren dürfte nicht leichter werden.

Und die CDU, ein Jahr nach dem Verlust des Kanzleramts? Zum Verhängnis wurde der Partei  die seit Jahren schwindende Wirtschaftskompetenz. „Intensiv arbeiten“, kündigte Parteichef Friedrich Merz an, eigentlich ein Mann der Wirtschaft. Man darf gespannt sein. Einen Ministerpräsidenten verloren (im Saarland), in Niedersachsen raus aus der letzten Großen Koalition, die Staatskanzleien in Düsseldorf und Kiel verteidigt, eine zwiespältige Bilanz 2022. Merz gibt sich unverdrossen, weniger Bundestag, mehr Parteizentrale beschreibt er seinen künftigen Arbeitsalltag. Dort lasse er sich zu wenig blicken, heißt es.

Im Adenauerhaus hat schon länger ein Stühlerücken begonnen. Am Montag feuerte Merz seinen Bundesgeschäftsführer, nicht der erste Parteimanager, der seit dessen Amtsantritt im Januar seinen Hut nehmen mußte. Organisatorisch räumt Merz auf mit den „Merkelianern“, inhaltlich warten die konservativen Restbestände der CDU weiter auf einen Schwenk zu bürgerlichen Werten. 40.000 Wähler hat die AfD am Sonntag bei der CDU abgezogen. „Keinen Millimeter nachgeben“, markiert Merz seinen Kurs.

In Niedersachsen selbst sieht es für die Union besonders trübe aus: Der abermals gescheiterte Spitzenkandidat Bernd Althusmann hat seine Niederlage unumwunden eingeräumt und den Rückzug vom Parteivorsitz angekündigt. Doch ein potentieller Nachfolger mit dem Zeug zum Zugpferd ist weit und breit nicht zu sehen. Ambitionen sagt man Generalsekretär Sebastian Lechner nach, der zuvor bei der „Modernisierung“ der Partei fleißig mitgemischt hatte. Die an die Grünen angelehnte paritätisch mit Frauen besetzte (und damit nicht frei gewählte) Landesliste hat der CDU jedenfalls keine Bonuspunkte beschert. 

Nach einer Niederlagenserie in den Ländern sieht sich die AfD im Aufwind. Das zweistellige Ergebnis (10,9 Prozent) zwischen Ems und Elbe soll genutzt werden, um aus Protestwählern Stammwähler zu machen. Erhöhte Kompetenzwerte, Zuspruch nicht nur in der Arbeiterschaft, sondern auch im Mittelstand vermitteln Aufbruchsstimmung, auf die sich die etablierten Parteien einstellen müssen. AfD-Spitzenkandidat Stefan Marzischewski-Drewes, ein Allgemeinmediziner und Radiologe aus Gifhorn, will die 18köpfige Fraktion mit ruhiger Hand führen. Polarisierungen scheinen ihm fremd. Nach jahrelangem Flügelstreit sieht Bundeschef Tino Chrupalla die AfD geeint, eine Trendwende sei eingeläutet. Daß man bundespolitisch über „Alleinstellungsmerkmale“ verfüge – etwa mit der Forderung, die Sanktionen gegen das in die Ukraine einmarschierte Rußland zu stoppen –, sei einer der Gründe für den Wahlerfolg.

Die Blauen brechen auch in schwarze Hochburgen ein

Verstärkt sollen die FDP-Wähler in den Blick genommen werden. Während SPD, Grüne und CDU das Ausscheiden der FDP aus dem Landtag mehrfach bedauerten, machte Chrupalla aus seiner Freude über deren Scheitern keinen Hehl. Fast könnte man meinen, die Liberalen hätten die Grünen als Hauptgegner abgelöst. Zumindest will der AfD-Bundesvorsitzende die Liberalen als Partei für den Mittelstand ablösen, bekräftigte er am Montag. Das bejubelte Ergebnis von Hannover sei ein guter Auftakt für die im nächsten Jahr anstehenden Landtagswahlen. Diesmal habe die AfD nicht vorrangig von ehemaligen Nichtwählern profitiert, sondern von denen, die bisher bei CDU, FDP oder SPD ihr Kreuz machten. Auffällig: Die Blauen konnten diesmal sogar in den sonst tiefschwarzen Hochburgen punkten, in den katholisch und landwirtschaftlich geprägten Regionen um Cloppenburg und Vechta. Die Christdemokraten überschritten hier nicht die Fünfzigprozentmarke, in früheren Zeiten ein absolutes Minimum. Ihren Spitzenwert mit über 18 Prozent strich die AfD unterdessen im industriell geprägten Salzgitter ein; unter fünf Prozent blieb sie wenig überraschend in Göttingen, Hochburg der Grünen.

Die sind nun mächtiger denn je, auch wenn sie hinter den Umfragen auf Bundesebene zurückblieben und im Sommer noch deutlich besser dastanden. Aber: Regierungsverantwortung im Bund und in 12 von 16 Landesregierungen (die künftig absehbare in Niedersachsen eingerechnet). In der Ampel wollen die Grünen der FDP das Gefühl nehmen, sie störe nur die rot-grüne Harmonie. Denn der Erhalt der Koalition hat für die Ökopartei oberste Priorität. Die gute Stimmung intern müsse künftig auch nach außen sichtbarer werden, lautet die besorgte Parole von Parteichef Omid Nouripour. Bei der SPD heißt das „Unterhaken statt Beharken“. 

So formuliert es Parteichef Lars Klingbeil, beschwingt durch das gute Abschneiden seines Landesvaters Stephan Weil, dem unumstrittenen Sieger der Landtagswahl trotz eines Verlusts von 3,5 Prozentpunkten. Bereits für diesen Donnerstag waren Sondierungsgespräche zwischen SPD und Grünen in Hannover terminiert worden. Gestärkt durch drei Direktmandate in Hannover, Göttingen und Lüneburg beanspruchen sie drei bis vier Ministerposten. Dann sitzen sie einem selbstbewußten Ministerpräsidenten gegenüber, dem die Niedersachsen zum dritten Mal ins Amt geholfen haben. Die Bundes-SPD und Kanzler Olaf Scholz können sich weiter auf den 63jährigen und künftig auf die sechs rot-grünen Landesstimmen im Bundesrat verlassen. 

Und die Linkspartei mit ihren gerade mal 2,7 Prozent? Die Linke dringe mit linken Themen nicht durch, meinen die Wahlforscher. Nach der Wahl sei vor der Wahl, macht sich die Partei Mut. 2023 werden die Landesparlamente in Bremen, Hessen und Bayern gewählt. Planmäßig. Und voraussichtlich im Frühjahr in Berlin, wo die Pannenwahl vom September 2021 wiederholt werden soll.

 Kommentar Seite 2

Foto: Der Alte wird’s wieder: Ministerpräsident Stephan Weil läßt sich von den Genossen als Wahlsieger feiern