© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 42/22 / 14. Oktober 2022

Bannmeilen um Beratungsstellen
Lebensschutz: Die Bundesregierung plant offenbar, die Demonstrationsfreiheit von Abtreibungsgegnern einzuschränken / Hohe rechtliche Hürden
Sandro Serafin

Während sich die Ampel-Parteien in mehreren Politikfeldern zunehmend gegenseitig auf den Füßen stehen, zeigt sich an anderer Stelle, was möglich ist, wenn SPD, Grüne und FDP im wesentlichen einer Meinung sind: Ausgerechnet in der sensiblen Abtreibungsfrage legt die Regierung ein schwindelerregendes Tempo auf einem Pfad vor, der geradewegs zur Entsorgung des bislang gültigen bundesrepublikanischen Kompromisses führt.

Zunächst strichen die Koalitionsfraktionen das bis dahin im Paragraphen 219a festgeschriebene Werbeverbot für Abtreibungen aus dem Strafgesetzbuch. Nun soll bald auf Geheiß der Bundesregierung eine Sachverständigenkommission nach Wegen suchen, auch den Paragraph 218, also das Verbot von Abtreibungen an sich, aus dem Strafrecht zu entfernen. 

Doch die Koalitionäre tragen ihren Kulturkampf, den sie als Abwehrkampf gegen einen weltweiten konservativen Rollback wahrnehmen, mittlerweile auch auf Nebenkriegsschauplätzen aus: In der vorigen Sitzungswoche gab Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne) während der Regierungsbefragung im Bundestag bekannt, daß die Koalition noch in diesem Jahr gesetzlich gegen von ihr so bezeichnete „Gehsteigbelästigungen“ vorgehen will. Damit meint sie Aktionen von Lebensschützern in der Nähe von Abtreibungsberatungsstellen.

Konkret geht es um eine Bandbreite von Vorfällen: So kam es in der Vergangenheit vor, daß Lebensrechtler Frauen vor Beratungsstellen ansprachen, nach einer Schwangerschaft fragten und ihnen Flyer gaben, wie sich etwa in einem Urteil zu einem Fall aus Freiburg aus dem Jahr 2012 nachlesen läßt. In anderen Fällen allerdings beten sie lediglich, singen oder halten Transparente mit Bildern von Ungeborenen vor sich, so bei zwei Fällen in Frankfurt und Pforzheim, die in diesem Jahr gerichtlich verhandelt wurden.

Abtreibungsverbänden und -Aktivisten sind die Aktivitäten so oder so ein Dorn im Auge. Sie sehen darin eine Zumutung für schwangere Frauen, die Beratungsstellen aufsuchen, zumal jene zu diesem Gang rechtlich verpflichtet sind, bevor sie abtreiben dürfen. Auch unterhalb der Bundesebene sind Politiker daher schon lange mit der Thematik befaßt: Das hessische Innenministerium gab bereits 2019 zwei Handreichungen heraus, in denen es Behörden Hinweise zum Umgang mit den Aktionen gab. Zudem haben Städte wie München und Pforzheim den Bund aufgefordert, gegen die „Gehsteigbelästigungen“ durchzugreifen. 

Mit eigenen Versuchen, die Arbeit der Lebensschützer einzuschränken, waren verschiedene Kommunen zuletzt auf die Nase gefallen: Im Dezember 2021 erklärte das Verwaltungsgericht Frankfurt am Main eine städtische Auflage für rechtswidrig, die eine Gebetsaktion örtlich beziehungsweise zeitlich beschränkt hatte. Im August folgte ein Urteil des Verwaltungsgerichtshofes Baden-Württemberg gegen eine Auflage in Pforzheim, wo man die Betenden außer Sichtweite einer Beratungsstätte verbannt hatte. Damit verwarf es einen gegenteiligen Richterspruch aus der vorhergehenden Instanz. 

Rechtlich ist die Gemengelage wie so oft komplex: Auf der einen Seite haben Gerichte bejaht, daß die Persönlichkeitsrechte der Frauen durch die Aktionen betroffen seien und dies durch die Nähe zur Intimsphäre auch besonders schwer wiegen kann. Auf der anderen Seite haben sie wahlweise auf das Versammlungsrecht, die Religionsfreiheit und die Meinungsfreiheit der Lebensrechtler verwiesen. Am Ende kommt es auf die Abwägung im Einzelfall an und darauf, wie genau sich die Aktivisten verhalten.

„Ohne Stigmatisierung durch Gebete oder Gesänge“

Im Pforzheimer Fall erklärte der Verwaltungsgerichtshof unter Rückgriff auf eine 2010 vom Bundesverfassungsgericht ausgegebene Formel, eine Versammlung sei zulässig, solange sie nicht „zu einem physischen oder psychischen Spießrutenlauf“ für die Frauen führe. Problematisch sei, wenn diese etwa als vorwurfsvoll empfundenen Plakaten oder Gebeten „aus nächster Nähe ausgesetzt wären“. Hier aber hatten die Lebensrechtler auf der anderen Seite einer vierspurigen Straße gestanden.

Mit der geplanten bundesweiten Regelung geht es der Regierung laut Paus darum, „Klarheit zu schaffen“. Noch ist offen, wie ihr Vorschlag aussehen wird. Im Bundestag erklärte die Ministerin lediglich, daß ihr ein Ordnungswidrigkeitstatbestand vorschwebt. Das hatte im vergangenen Jahr auch ein Gutachten für die Grünen-nahe Heinrich-Böll-Stiftung vorgeschlagen. Doch welches Verhalten genau wird als Delikt gelten? Es sei nicht in Ordnung, wenn Menschen bedroht würden, sagte Paus im Bundestag. Sie wisse, daß Frauen „sehr oft lautstark“ angesprochen würden und es „extrem eskaliert“, behauptete sie. Prompt folgte aus den Koalitionsreihen der Hinweis, daß die Neuregelung weiter gehen müsse: Es sei „nicht nur wichtig zu berücksichtigen, ob die Frauen angesprochen werden“, erklärte die Parlamentarische Geschäftsführerin der SPD, Katja Mast. Vielmehr gehe es auch darum, „daß sie, ohne erkannt zu werden, ohne Beobachtungsgefühl, ohne Stigmatisierung durch Gebete, Gesänge oder Plakate“ in die Beratungsstelle kämen. Das würde auf eine generelle Bannmeile um Beratungsstellen herum hinauslaufen.

Der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages schätzte diese Idee 2018 als verfassungswidrig ein. Die Gesellschaftsordnung des Grundgesetzes vertrage „grundsätzlich keine diskursfreien Zonen“, in denen die Begegnung mit anderen Ansichten von vornherein „tabuisiert“ werde, hieß es 2016 auch in einem Münchner Urteil. Vor diesem Hintergrund scheint es gut möglich, daß die Initiative der Bundesregierung am Ende nicht zur Klärung der Lage beiträgt, sondern bloß weitere Gerichtsverfahren nach sich zieht.