© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 42/22 / 14. Oktober 2022

Zwischen Reichstag und Kanzleramt
Im Zweifel für den Schlendrian
Paul Rosen

Was im vergangenen Jahr in Berlin bei den Wahlen zum Abgeordnetenhaus und zum Bundestag zu erleben war, kannte man bis dato nur aus Entwicklungsländern: falsche oder keine Stimmzettel, zu wenige Wahlurnen, zeitweise geschlossene Wahllokale, lange Warteschlangen und Wahllokale, die weit über die erlaubte Zeit von 18 Uhr hinaus geöffnet waren. Das Landesverfassungsgericht hat schon vor seinem endgültigen Urteil durchblicken lassen, daß die Abgeordnetenhauswahl komplett wiederholt werden muß (JF41/22). Nur so könne es wieder einen verfassungskonformen Zustand geben. 

Bei der Bundestagswahl in der Hauptstadt gab es zwar die gleichen Probleme, doch die Konsequenzen sind ganz andere. Wohl hatte Bundeswahlleiter Georg Thiel Einspruch gegen die Abstimmung in sechs Wahlkreisen eingelegt. Als Grund nannte er eine mögliche Mandatsrelevanz, das heißt, die Sitzverteilung hätte bei ordentlichem Verlauf anders ausfallen können.

Trotz dieses Einspruchs und der Haltung des Landesverfassungsgerichts beurteilt die Ampel-Mehrheit im Wahlprüfungsausschuß des Bundestags die Pannen anders. Offenbar will man teilweise neu wählen lassen, aber das neue Ergebnis soll nicht wehtun. Daß dies das genaue Gegenteil eines demokratischen Verfahrens ist, interessiert die Mehrheit im Ausschuß nicht. Während Thiel noch eine Wiederholung in 1.300 Stimmbezirken für nötig erachtete, ging die Koalition im Sommer schon auf 400 Wahllokale herunter. Nun wurde der Vorschlag auf 300 Stimmbezirke reduziert. Und die Wahl der Direktkandidaten (Erststimme), die von den Unregelmäßigkeiten genauso betroffen ist wie die mit den Zweitstimmen, soll gar nicht wiederholt werden. Sogar die Vorsitzende des Wahlprüfungsausschusses, Daniela Ludwig (CSU), zeigte sich unzufrieden: Der Berliner Verfassungsgerichtshof habe dargelegt, „daß die ganze Wahl an einer stümperhaften, schlechten Vorbereitung krankte“.

Auf den Fluren des Bundestages ist zu hören, daß bei einer kompletten Wiederholung der Bundestagswahl in Berlin der Linkspartei der Verlust des Wahlkreises von Gesine Lötzsch in Lichtenberg drohen könnte. Würde sie, die 2021 nur noch sechs Prozentpunkte vor der SPD lag, ihren Wahlkreis verlieren, hätte dies massive Konsequenzen: Da die Linke insgesamt unter fünf Prozent blieb und nur wegen der Direktmandatsklausel (danach reichen ihre bundesweit drei gewonnenen Wahlkreise zur Umgehung der Fünfprozenthürde) mit einer Fraktion im Bundestag sitzt, müßte diese Fraktion bei einer Niederlage in Lichtenberg ihre Bundestagssitze bis auf die zwei Direktmandate räumen. Das wäre das Ende der Linkspartei, was SPD, Grüne und offenbar auch die FDP nicht wollen.

Über die Gültigkeit seiner Wahl entscheidet – wie praktisch – der Bundestag selbst. Zwar kann dagegen das Bundesverfassungsgericht angerufen werden, aber solche Verfahren ziehen sich erfahrungsgemäß hin. Der Vorwurf bliebe, daß das Parlament in Teilen nicht rechtmäßig zusammengesetzt ist.