© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 42/22 / 14. Oktober 2022

„Ich bin hier für unsere Kinder!“
Heißer Herbst: Zehntausende Menschen demonstrieren in Deutschland aus reiner Existenzangst
Martina Meckelein / Vincent Steinkohl / Florian Werner

Zwar hat die AfD den Heißen Herbst 2022 ausgerufen, doch unabhängig von der politischen Selbstverortung und Parteibüchern gehen immer mehr Menschen auf die Straße. Die soziale Frage ist Kern aller Demonstrationen: Ungleichheit, Existenzängste, Unternehmenspleiten, die miserable Schul- und Bildungssituation, Angst vor einer Energiekrise. Unterstellungen, sie seien Rechtsradikale, treffen immer weniger den Nerv der protestierenden Bürger. Die Linken haben es völlig versäumt, diese Themen selbst zu besetzen. Auch weil sie zwei Jahre hindurch, gemeinsam mit den Medien, die Corona-Maßnahmen der Bundesregierung unterstützten, gar durchsetzten. Das große Demonstrationswochenende in Deutschland. Die JUNGE FREIHEIT berichtet von Hamburg, Berlin, Hannover und Schwerin. 

Es ist Samstag. 3.500 Demonstranten treffen sich um 13 Uhr auf dem Opernplatz in Hannover. „Wir sind für die sofortige Aufhebung des Infektionsschutzgesetzes und teilen unserem Kanzler und Ministerpräsidenten in Hannover mit, daß wir die Energiepreistreiberei und Enteignung der Bevölkerung durch die Regierung nicht akzeptieren“, lautete das Bandwurm-Motto der Versammlung.

Einer, der auf der Demo das Wort ergreift, ist Axel Turck, Diplom-Ingenieur, Geschäftsführer der Gießerei „Emil Turck GmbH & Cie.KG“. Das Familienunternehmen verarbeitet Aluminium im Gußverfahren, seine Produkte sind weltweit gefragt. Dennoch sieht Turck, der sich in der Partei „Die Basis“ engagiert, den Betrieb in Gefahr. „Bereits die Corona-Maßnahmen sind verheerend gewesen, die aktuellen Energiepreise gefährden mein Unternehmen und die Arbeitsplätze meiner 45 Mitarbeiter“, sagt er gegenüber dieser Zeitung. „Die Kopplung von Strom an den Gaspreis muß komplett abgeschafft werden.“

Nur wenige hundert Meter von der Demonstration entfernt kämpft Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) noch um jede Stimme für die bevorstehende Landtagswahl. Sein Parteigenosse Bundeskanzler Olaf Scholz unterstützt ihn mit einem Auftritt vor der Marktkirche. Scholz verspricht den rund 1.000 Zuhörern, daß „wir wohl sicher durch den Winter kommen“, wozu auch die beiden süddeutschen Atomkraftwerke beitragen würden. Über das dritte Atomkraftwerk im niedersächsischen Lingen, das laut CDU, FDP und AfD ebenfalls bei der Energiegewinnung helfen könnte, spricht Scholz nicht. Strategisch klug. Weil wird am folgenden Abend mit seiner Wunschpartei, den Grünen, eine Koalition eingehen können.

Die Grünen sind am selben Tag zur selben Zeit einige hundert Kilometer weiter im Osten ebenfalls Thema auf einer Demonstration. Sie wird entgegen aller Unkenrufe sehr groß und bleibt sehr friedlich. 1.900 Polizeibeamte aus verschiedenen Bundesländern sichern die Hauptstadt. Das Motto der Demo: „Energiesicherheit und Schutz vor Inflation – Unser Land zuerst!“. Erst 4.000, dann 5.000 Teilnehmer hatte die AfD angemeldet. Linke Kreise spekulieren vorab, die Demo sei ein Kräftemessen zwischen Björn Höcke, dem Thüringer AfD-Chef und dem Rest der AfD. Hatte er doch zum Tag der Deutschen Einheit immerhin 10.000 Demonstranten nach Gera mobilisieren können. Und wirklich, um 13 Uhr ist der Platz der Republik nur spärlich gefüllt. Heike Slezak (77) aus Sachsen kommentiert das mit den Worten: „Die Leute sind bequem. Das sieht man doch daran, wie wenige hier sind.“ Doch vielleicht liegt es daran, daß Tausende Kunden der Deutschen Bahn am Samstag vormittag gar nicht reisen können. Ein Anschlag! Glasfaserkabel in Dortmund und Berlin wurden gekappt. Drei Stunden Zugausfall.

Als AfD-Bundessprecher Tino Chrupalla eine dreiviertel Stunde später allerdings der Menge entgegenruft: „Wir kämpfen für das deutsche Volk“, hat sich der Platz in ein schwarzrotgoldenes Fahnenmeer verwandelt. 18 Minuten dauert seine Rede. „Die Bundesregierung macht keine Politik für die Bürger, vor allem die Grünen wollen, daß unser Land arm und schwach wird.“ Was die Zuhörer mit dem frenetischen Ruf „Habeck muß weg“ quittieren.

Den Linken nicht nur die Themen, auch die Parolen geklaut

Zwischen dem Schwarz-Rot-Gold sind zwei Reichsflaggen zu sehen. Mit genau diesen beiden Flaggen wird die B.Z. später einen Artikel bebildern. Die junge Frau dagegen, die eine blau-rosa-weiße Fahne der ‘Trans Pride’-Bewegung trägt, erscheint nirgendwo. Dieser Zeitung sagt sie: „Ich sehe da gar kein Problem, mit meinem Anliegen hier aufzutauchen. Einige haben mich auf die Flagge angesprochen, doch stets nett und verständnisvoll“.

Um 14. 49 Uhr setzt sich der Zug in Bewegung, viele Kinder, Hunde und ältere Menschen sind dabei. Die Junge Alternative hat einen bekannten Spruch von ‘Fridays for Future’ adaptiert: „Wir sind hier, wir sind laut – weil ihr uns die Zukunft klaut“, schallt es durch die Berliner Häuserfluchten. Die Antifa hat an diesem Tag keine Chance, Bürger anzugreifen. Lediglich 1.400 linke Demonstranten zählt die Polizei an diesem Tag. Dabei hatte die Szene vollmundig aufgerufen: „Alle hassen Nazis – AfD-Aufmarsch wegbassen“. Immer wieder rufen sie aus ihren „mobilen Gegenprotestaktionen“ heraus Parolen wie „Nazis raus“ und „AfD Faschistenpack, wir haben euch zum Kotzen satt!“ Die souveräne Antwort der Demonstranten: „Ganz Berlin liebt die AfD“. Und auch damit hat die Partei wieder einen Kampfruf der Linksextremisten umgewidmet.

Gegen 18 Uhr erklingt im grauen Berliner Regen die Nationalhymne und beschallt den Platz der Republik, während jeder seiner Wege geht. Die Polizei wird später melden, daß es einige Stör- und Blockadeversuche sowie Anzeigen wegen Beleidigung, Körperverletzung, Raub und Zeigen des Hitlergrußes gab. Auf Facebook wird allerdings gemutmaßt, daß die junge Frau, sie ist 18 Jahre alt, aus der Antifa-Szene stamme. Auf Nachfrage der JF hieß es seitens der Polizei, daß aus Datenschutz und wegen laufender Ermittlungen keine Auskunft gegeben werden könne.

Sonntag. Die zehn Trommler, acht Frauen und zwei Männer, schlagen mächtig auf die Pauke. Strahlender Sonnenschein in Hamburg. Vor der Kunsthalle an der Ernst-Merck-Straße sortieren sich 120 Demonstranten. Um 15 Uhr wollen sie mit ihrem Marsch durch die Innenstadt starten. „Wir haben keinen Bock auf hausgemachte Armut“ ist das Motto, unter dem sich seit September die Demonstranten sonntags und montags zu einer Demonstration oder einem Spaziergang vor der Kunsthalle treffen. Die Bürgerinitiative Demohamburg.de organisiert die Märsche. Angeführt werden sie von Tom Naumann (37). Der Familienvater war Angestellter bei der Hamburger Polizei. Doch die Hansestadt hat sich von ihm getrennt, ihm wird Reichsbürgernähe vorgeworfen. 

Die Sorge vor einem rechten Gewaltpotential scheint von den Sicherheitsorganen der Hansestadt allerdings als gering eingestuft zu werden. Vorne und hinten ein Streifenwagen, dazu vier Motorräder und eine Einsatzleiterin zu Fuß. So eskortiert die Polizei den Zug durch die City. „Alle haben davon geredet, daß etwas gemacht werden muß“, sagt Naumann gegenüber der JUNGEN FREIHEIT, „deshalb habe ich diese Demos organisiert.“  Den Vorwurf, ein Reichsbürger zu sein, weist Naumann strikt von sich. Genauso Frieda Mejling (48), Fußpflegerin aus Hamburg-Wandsbek. „Ich bin eine stinknormale Mutter von drei Kindern“, sagt sie. „Ich bin hier, weil wir aufstehen müssen, weil wir der Politik zeigen müssen, daß es so nicht weitergehen kann. Für unsere Kinder und für die Älteren.“

Ein bunter Haufen, der da über den Glockengießerwall marschiert. Eine Flagge mit Friedenstaube flattert im Wind. Aus dem VW-Pritschenwagen dröhnt: „Bella ciao“. Ein italienisches Partisanenlied, das gerne von der Antifa gesungen wird. Passanten staunen, bleiben stehen, halten sich die Ohren zu. Die Trommeln sind laut. Sie sollten allerdings die Augen öffnen. Eine Demonstrantin trägt ein braunes Pappschild, darauf zu lesen: „Geh jetzt auf die Straße, sonst lebst du bald dort!“ Fast eine Prophezeiung. Denn selbst hier, in der noblen Innenstadt, breitet sich die bittere Armut aus. Obdachlose hocken in Häusernischen, schützen sich vor der Kälte unter Altkleiderbergen. Am Jungfernstieg greift Naumann wieder zum Mikro: „Wir von der Bürgerinitiative versuchen, mit Politikern ins Gespräch zu kommen.“ Er will mit ihnen über Masken, Impfungen und den „Geldbeutel“ sprechen. Immerhin, ein SPD-Bezirkspolitiker aus  Bergedorf hätte versprochen, „Türen zu öffnen“.

Viele Teilnehmer sind zum ersten Mal auf einer Demonstration

„Hier marschiert der harte Kern der Corona-Demonstrationen vom Winter“, erzählt ein Fotograf, der häufiger die Demonstrationen begleitet. „Aber es kommen wieder neue Gesichter hinzu.“ Am Montag soll es wieder einen Spaziergang geben. 

Das tut es auch in Mecklenburg-Vorpommern. Das Bürgerbündnis „Schwerin schweigt nicht“ hat zur Demo an die Siegessäule gerufen. Es sind Familien, Rentner und Jugendliche, die sich heute vor dem Schloß einfinden. Auf den Schildern stehen Parolen wie „Licht aus? Gehirn ein!“ oder „Rettet unsern Mittelstand. Jagt die Grünen aus dem Land“. „Berichten Sie sachlich und zeichnen kein falsches Bild von uns“, mahnt eine ältere Dame. „Wir waren 2015 für die Flüchtlinge und auch bei Corona haben wir nicht protestiert – aber jetzt geht es um Krieg und Frieden“, erklärt eine Frau in beiger Trekkingjacke ihre Motivation. In Schwerin treten weder Politiker auf, noch werden Partei-Banner gezeigt. Die Menschen, die hier marschieren, sind demonstrationsunerfahren. Der Demonstrationszug wird zunächst immer wieder verschoben, weil sich nicht genug Ordner finden. Ungehalten brüllt deshalb ein breitgebauter Mann die Versammlungsleiter an. Als es schließlich losgeht, bricht bereits die Dunkelheit herein. Die endlos wirkende Menschenmenge schiebt sich durch die Straßen der Altstadt. Trommeln hallen durch den Abend. Trillerpfeifen erklingen. Das warme Licht der Laternen mischt sich in das grelle Blaulicht der Polizei. Immer wieder strecken Menschen  ihre Köpfe aus den Fenstern der Altbaufassaden. Vor einer Motorradwerkstatt ertönt plötzlich laut die „Ode an die Freude“. Der Ladenbesitzer winkt dem Aufzug fröhlich entgegen.

Als dieser fast am Ziel ist, stimmt die Menge noch einmal den Ruf „Frieden, Freiheit, keine Diktatur!“ an. Dann verliert sie sich lautlos wie ein Gespenst in der Nacht – um am nächsten Montag wiederzukehren. Rund 4.500 Menschen versammelten sich laut Veranstalter an dem Monument für im Deutsch-Französischen Krieg gefallenen Mecklenburger. Und wieder ein Problem, das seit Jahren die Gemüter erhitzt: Denn die Polizei wird abschließend nur von 2.350 Demonstranten sprechen. Die Teilnehmerzahlen sind immer wieder Thema in den Medien. Was stimmt? Wer weiß es?





Montagsdemonstrationen

Seit einigen Wochen haben die Montagsspaziergänge wieder eingesetzt, die im vergangenen Winter zu Hochzeiten über 300.000 Menschen auf die Straßen trieben. Wie sieht es zur Zeit aus? Die JF fragte bei den Innenministerien der Bundesländer nach den Teilnehmerzahlen am 10. Oktober und erhielt bis zum Redaktionsschluß 13 Antworten. Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: Während es im Osten bereits brodelt, ist im Westen nur wenig Bewegung zu vermerken.

Sachsen:27.400 Personen

Thüringen:27.000 Personen

Sachsen-Anhalt:11.200 Personen

Brandenburg:10.500 Personen

Mecklenburg-Vorpommern:8.789 Personen

Baden-Württemberg:3.000 Personen

Niedersachsen:1.350 Personen

Hamburg:1.200 Personen

Berlin:570 Personen

Rheinland-Pfalz:492 Personen

Schleswig-Holstein:215 Personen

Bremen:30 Personen

Saarland:9 Personen

Foto: Reichstag und Platz der Republik: Die AfD rief zur Demonstration am Samstag nach Berlin. Über 10.000 Menschen folgten dem Motto: „Deutschland zuerst“