© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 42/22 / 14. Oktober 2022

Ramsan soll Rußland retten
Ukraine-Krieg: Zieht Wladimir Putin mit dem Tschetschenen Kadyrow seinen letzten Trumpf?
Marc Zoellner

Vergangenen Sonnabend herrschte rege Betriebsamkeit in den Supermärkten und an den Tankstellen der Halbinsel Krim: Mit prall gefüllten Einkaufswagen standen Kunden Schlange vor den Kassen der Einzelhändler. Passanten filmten schier endlose Reihen an Pkw, die sich an die Zapfsäulen drängelten. Die Hamsterkäufe an Lebensmitteln und Benzin riefen zuletzt sogar den Kreml auf den Plan, um eine örtliche Telefonhotline einzurichten, bei welcher sich die Bevölkerung über aufblühenden Schwarzmarkthandel sowie Preisexplosionen beschweren durfte. „Die Situation ist im Moment unter Kontrolle“, beschwichtigten die Behörden auf der Krim. „Die Analyse zeigt, daß es keinen Grund für die stürmische Nachfrage und den damit verbundenen Preisanstieg gibt. Nahrungs- und Treibstoffvorräte sind ausreichend, um die Nachfrage zu decken, und es besteht kein Mangelrisiko.“

Präsident Wladimir Putins 70. Geburtstag fiel ins Wasser

Nur Stunden vor dem Massenansturm hatte sich ein folgenschwerer Angriff auf die Krim-Brücke, welche die von Rußland besetzte Halbinsel seit 2018 mit dem russischen Festland verbindet, ereignet. Eine mutmaßliche Lkw-Bombe zerstörte die Fahrspur in Richtung der Krim komplett und beschädigte überdies eine Eisenbahntrasse. Anderthalb Tage sprach Moskau von einem Unfall. Seit Sonntag abend hingegen verbreitet die russische Staatsführung das Narrativ eines Terroranschlags, ausgeführt vom ukrainischen Sicherheitsdienst SBU, in Kollaboration mit mehreren russischen Staatsbürgern. 

Von Rußlands Präsident Wladimir Putin am Steuer eines Trucks persönlich eingeweiht, kam dem „Bauwerk des Jahrhunderts“ nicht nur infrastrukturell eine besondere Bedeutung zu. Die Reaktionen des Kreml erfolgten dementsprechend scharf. „Rußland kann auf dieses Verbrechen nur reagieren, indem es Terroristen direkt tötet, wie es in anderen Teilen der Welt üblich ist“, tönte Dmitri Medwedew, Vizevorsitzender des Sicherheitsrats der Russischen Föderation. „Das erwarten die russischen Bürger.“

Als Vergeltung für die Sprengung von Teilen der Krim-Brücke schlugen in der Nacht zum Montag Dutzende russische Raketen in ukrainischen Städten von Lwiw an der polnischen Grenze bis Charkiw im Osten des Landes ein. Insbesondere Kraftwerke und Umspannwerke hatte Moskau dabei ins Visier genommen, was zu zahlreichen Stromausfällen quer durch die Ukraine führte. 

Aus Kiew wurde überdies der Angriff auf eine bei Einheimischen und Touristen beliebte Aussichtsbrücke berichtet. In Saporischschja wurden bei einem Raketenangriff auf ein Wohnhochhaus mindestens neunzehn Bewohner getötet. „Das Ziel der Angriffe wurde erreicht“, kommentierte das russische Verteidigungsministerium am Montag abend. „Alle zugewiesenen Ziele wurden neutralisiert.“

Da die Krim-Brücke nicht zuletzt den Streitkräften Rußlands als logistischer Nachschubweg zur Belieferung der eigenen Truppen auf der Krim sowie nach dem umkämpften Cherson dient, deutet die ukrainische Militärführung die Zerstörung der Überquerung als strategischen Maximalerfolg. „Der Lenkwaffenkreuzer Moskwa“, im April im Schwarzen Meer von ukrainischen Raketen versenkt, „und die Krim-Brücke“, twitterte das Verteidigungsministerium der Ukraine, „zwei berüchtigte Symbole russischer Macht auf der ukrainischen Krim sind versenkt.“ Mychajlo Podoljak, Berater des ukrainischen Präsidialamts, pflichtete dieser Aussage bei: „Alles Illegale muß vernichtet, alles Gestohlene der Ukraine zurückgegeben werden.“

Kein Zufall war das gewählte Datum des Angriffs auf die Krim-Brücke: Nur eine Woche zuvor hatte Moskau die Ergebnisse seiner Referenden in den vier von Rußland besetzten Gebieten sowie deren Beitritt zur Russischen Föderation verkündet. Ebenso feierte nur einen Tag vorher der russische Präsident Wladimir Putin seinen 70. Geburtstag – diesmal jedoch nicht wie üblich mit pompösen Festivitäten im Kreise bedeutender Staatsführer wie noch in den Vorjahren, sondern in ungewohnter Isolation. 

Von seinem Arbeitszimmer aus ließ sich Putin lediglich mit den Präsidenten Kubas, Kirgistans, Kasachstans, Südafrikas und der Türkei telefonisch verbinden. Selbst eine gemeinsame Gratulation der Mitglieder der „Gemeinschaft Unabhängiger Staaten“ (GUS), der Dachorganisation der Nachfolgestaaten der Sowjetunion, kam aufgrund des Fernbleibens Moldawiens sowie Kirgistans nicht zustande. Mit Kasachstan hatte sich vorab schon ein weiterer GUS-Staat im Juni auf dem Internationalen Wirtschaftsforum in St. Petersburg deutlich von Putins Annexionsplänen in der Ukraine distanziert.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan wiederum, einer der wenigen direkten Gratulanten zu Putins rundem Geburtstag, präsentiert sich diese Woche als Unterzeichner eines bei den Vereinten Nationen eingegangenen Memorandums zur Verurteilung der Referenden in der Ukraine.

Noch diese Woche soll über dessen Inhalt zur UN-Vollversammlung abgestimmt werden. Eingebracht hatten das Positionspapier neben den EU-Staaten und der Türkei unter anderem auch Japan und Südkorea sowie die Kaukasusrepublik Georgien. Letzterer Staat kann mit Abchasien und Südossetien selbst auf zwei seiner Regionen verweisen, die von russischem Militär besetzt gehalten sind. Im Vorfeld der Vollversammlung hatten sich russische Diplomaten für eine geheime Abstimmung unter den UN-Mitgliedsstaaten eingesetzt. 

Moskau setzt nun auf „skrupellose“ Militärs

Mit dem Vormarsch ukrainischer Truppen im Großraum Charkiw sowie im Westen der Oblast Luhansk schwinden die von Rußland in der Ukraine besetzten Gebiete beinahe täglich in drastischem Umfang. Moskau konzentriert sich derweil mit mäßigem Erfolg auf die Einnahme der Stadt Bachmut, etwa siebzig Kilometer nördlich von Donezk gelegen, sowie dem wichtiger Eisenbahnlinie. Die Wohnquartiere der Stadt sind Augenzeugen zufolge mittlerweile großflächig zerstört.

Mit dem Armeegeneral Sergei Surowikin ernannte der Kreml überdies einen neuen Oberkommandierenden für die komplette Ukrainefront, nachdem allein in der vergangenen Woche gleich zwei der fünf Generäle der Teilfronten entlassen wurden. Surowikin gilt als erfahrener, jedoch auch skrupelloser Kommandeur, der sich seinen Rang und Namen in Tschetschenien und zuletzt in Syrien verdiente, wo ihm von Menschenrechtlern die Zerstörung der Stadt Aleppo durch Kampfbomber angelastet wird. 

Mit der Ernennung Surowikins reagierte Putin augenscheinlich auf die interne Kritik einflußreicher russischer Politiker wie dem Präsidenten der autonomen russischen Republik Tschetschenien, Ramsan Kadyrow. Dieser hatte, jüngst selbst erst von Putin zum Generaloberst befördert, der russischen Armee ein zu zögerliches Vorgehen vorgeworfen sowie den Einsatz von „Nuklearwaffen mit geringer Sprengkraft“ in der Ukraine gefordert.

 Meinungsbeitrag Seite 2