© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 42/22 / 14. Oktober 2022

Deutschland im energetischen Notstand
Strom- und Gasmangel: Handwerker und Mittelständler in Existenznot / Großkonzerne zeigen demonstrative Gelassenheit
Paul Leonhard

Der Appell ist eindringlich: „Wenn jeder Haushalt 60 Watt weniger verbraucht, sind das 30 Megawatt in der Hauptstadt.“ In den Spitzenzeiten müsse jeder seinen Stromverbrauch drosseln. Im sächsischen Mittweida schaltete die Hausgemeinschaft der Goethestraße 29 das Flurlicht auf Notbetrieb, in Gera verzichten die Stadtväter darauf, nachts ihr Rathaus anzustrahlen. Was sich wie ein Bericht vom Oktober 2022 liest, ist ein Spiegel-Beitrag vom Januar 1970, als in der DDR nach einem Großbrand im Braunkohlekraftwerk Lippendorf bei Leipzig die Energieversorgung kurzfristig in Not kam.

Zu einem totalen Blackout kam es selbst im Katastrophenwinter 1978/79 nicht, denn ab 1974 gingen die Reaktoren des AKW Greifswald ans Netz. Und um die ab 1978 verteuerten sowjetischen Öllieferungen zu ersetzen, wurde radikal auf Kohle- und Kernkraft umgestellt. Beide Stromquellen hat die „Energiewende“ ab 1999 ins Aus bugsiert, aber Wind- und Sonnenkraft sicherten 2021 nur 5,2 Prozent des deutschen Primärenergiebedarfs. 26,7 Prozent lieferte 2021 Gas, nach Öl (31,8 Prozent) und vor Kohle (17,9 Prozent) der zweitwichtigste Energieträger. Doch Ukraine-Krieg und Sanktionen haben Erdgas und Strom zur Mangelware gemacht.

Kleine Familienunternehmen geben ihr Geschäft einfach auf

Der Verbrauch sei zu stark angestiegen, klagte vorige Woche Klaus Müller, Präsident der Bundesnetzagentur. Die Regierungsappelle würden kaum greifen. Der Gasverbrauch der privaten Haushalte und kleineren Gewerbekunden habe in der 39. Kalenderwoche mit 618 Gigawattstunden (GWh) zehn Prozent über dem Niveau der Jahre 2018 bis 2021 gelegen. Diese Verbraucher seien für 40 Prozent des Gasverbrauchs verantwortlich. „Wir werden eine Gasnotlage im Winter ohne mindestens 20 Prozent Einsparungen im privaten und gewerblichen Bereich kaum vermeiden können“, warnte der frühere grüne Umweltminister von Schleswig-Holstein. Die Lage könne „sehr ernst“ werden.

Die Bäckereikette Thilmann Brot aus Wolken in Rheinland-Pfalz war unschuldig an der Gasnotlage. Das Familienunternehmen mit 93 Mitarbeitern und 20 Filialen hat schon am 13. September Insolvenz angemeldet. Wegen der Rohstoff- und Energiepreise sind auch die Bäckereien Goldjunge aus Langenzenn (Franken) und Otten aus Bremen oder Stöhr-Brot aus Westerstede (Oldenburg) und die Brotmanufaktur Gaues aus Hannover pleite. „Wir können unsere Kosten nicht eins zu eins an die Verbraucher weitergeben, sonst gehen noch mehr Kunden zu den Discountern“, erklärte Heinrich Traublinger, Innungsmeister für das bayerische Bäckerhandwerk, in der Augsburger Allgemeinen.

Viele Handwerker und kleinere Firmen wissen nicht, wie es für sie weitergeht. Ihre Rücklagen sind schon während der Corona-Schließungen aufgebraucht worden. Die versprochene „Gaspreisbremse“ kommt für sie zu spät. Müllers Sparappelle klingen für die Betroffenen wie Hohn: Die Insolvenzwelle sei bereits im Gang, und sie werde noch viel größer werden, prognostiziert Reinhold von Eben-Worlée, Verbandspräsident der Familienunternehmer. Nach Angaben des MIT-Bundesverbandes gibt es täglich 500 bis 600 Insolvenzen. Und: „Gerade kleine Familienunternehmen geben ihr Geschäft einfach auf, ohne offiziell Insolvenz anzumelden“, sagte Susan Hasse vom Zentralverband des Deutschen Bäckerhandwerks dem Business Insider. Diese würden erst aus der Statistik fallen, „wenn sie ihre Innungsmitgliedschaft oder den Eintrag in der Handwerksrolle kündigen“.

60 Prozent des Erdgases verbrauchen größere Firmen und Gaskraftwerke, die die stillgelegten Atom-, Kohle- und Ölkraftwerke ersetzen. Hier ist die Kapitaldecke größer, die höheren Kosten können oft noch an die Kunden weitergegeben werden, wie eine große Umfrage des Handelsblatts ergab: Lidl und Kaufland haben eine eigene Backfabrik von Gas und Öl umgestellt – allerdings für einen zweistelligen Millionenbetrag. Auch Continental, der Dufthersteller Symrise, Henkel und Siemens Healthineers wollen Gas mit Öl ersetzen. VW will sein firmeneigenes Kraftwerk in Wolfsburg vorerst nicht von Steinkohle auf Gas umstellen. Der Zementkonzern Heidelberg Materials verlagert Teile seiner Produktion aufs Wochenende, weil dann die Strompreise geringer sind. Airbus paßt ebenfalls seine Arbeitsschichten entsprechend an.

Die Allianz, der Chemieriese Beiersdorf und Eon beleuchten ihr Logo nicht mehr. BWM habe seine Außenbeleuchtung sogar weitgehend abgeschaltet, die Deutsche Bank ihren Brunnen vor der Frankfurter Zentrale stillgelegt und die Münchener Rückversicherung die abendliche Beleuchtung von Kunstwerken eingestellt. Bei RWE sollen Bewegungsmelder dafür sorgen, daß Flächen nicht mehr dauerhaft beleuchtet werden. Daimler Truck habe Lüftungsanlagen optimiert, Leuchtstoffröhren gegen LED-Lampen ausgetauscht und Maschinen umprogrammiert. Der Hamburger Staplerhersteller Jungheinrich schließt bis Ende März 2023 eines der beiden Bürogebäude. Bayer und Infineon zögern noch mit der Homeoffice-Pflicht, zunächst werden erst einmal die Bürotemperaturen abgesenkt.

Fresenius hat seine Dieselvorräte für die Notstromversorgung erhöht. Für den Leverkusener Chemiekonzern Covestro (7.000 Beschäftigte in Deutschland) ist Gas allerdings kurzfristig als Rohstoff unersetzlich. Bei einem Lieferstopp müßten die sieben deutschen Standorte heruntergefahren werden, was zudem schwerwiegende Folgen für viele Branchen hätte: chemische Vorprodukte sind eben auch unersetzlich. Doch anders als die regionalen Handwerker hat der Dax-Riese schon Standbeine in China, Texas und Thailand. Die BASF produziert auch in Mexiko und Malaysia. Und dort droht schließlich kein Strom- und Gasmangel.

Energiesparkampagne der Bundesregierung: www.energiewechsel.de