© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 42/22 / 14. Oktober 2022

„Einen Paß? Ja, das geht“
Türkei: Istanbul als Mekka reiselustiger illegaler Migranten / US-Ausweise sind hier am teuersten
Hinrich Rohbohm

Kapalı Çarşı steht über dem schmuckverzierten Torbogen geschrieben. Grand Bazaar darunter. Es ist elf  Uhr. Etwas ratlos stehe ich vor dem Eingang jenes berühmten Marktes im Istanbuler Stadtteil Eminönü und warte. Darauf, daß wie mit den Schleusern von Aksaray verabredet jemand auftaucht, um mich abzuholen. Wie in der vorigen Ausgabe der JUNGEN FREIHEIT berichtet, hatte ich mich als Flüchtlingshelfer ausgegeben, der für einen afghanischen Migranten einen Paß besorgen möchte, damit er nach Deutschland gelangen kann. Die Sache funktionierte, in den engen Gassen des Istanbuler Stadtteils Aksaray wurde ich über einen mutmaßlichen Schleuserhelfer weitergeschickt. „Einen Paß? Deutsch. Ja, geht. Aber das machen wir nicht hier“, hatte mir der Schleuserhelfer erklärt. Und mich zum Großen Bazar geschickt.

Keine Handynummer, keine Personenbeschreibung. Ich soll einfach nur dort vor dem Eingang stehen. Warten. Nichts geschieht. Das kann doch eigentlich nur schiefgehen. War ich aufgeflogen? Hatte man mich einfach nur auf den Arm nehmen wollen?

Er kramt eine Mappe hervor, zeigt Fotos von Reisepässen

Plötzlich tippt mich jemand leicht von hinten an, nennt den Undercover-Namen, den ich als Legende für die Aktion benutze und dem Schleuserhelfer in Aksaray genannt hatte. Ein schlanker, kahlköpfiger mit einem orangefarbenen T-Shirt bekleideter und kaum 1,70 Meter großer Mann mit Brille, der um die 35 Jahre alt sein mag, steht hinter mir. Offenbar ist er derjenige, der mich hier abholen soll. Für einen Besuch bei den Paßfälschern aus der Bosporus-Metropole. Zumindest bei einem seiner Händler. „Please follow me“, sagt der Mann in akzentfreiem Englisch und läuft ohne Zeit zu verlieren auf den Basar-Eingang zu.

Hinein ins kunterbunte Getümmel des überdachten Marktes mit seinen überfüllten Ständen von zumeist gefälschten Markenklamotten, allen möglichen orientalischen Gefäßen und Schmuckwaren und den kunstvoll verzierten Dächern. Im Zickzack pflügt sich der Mann mit mir durch die Menschenmassen, geht es durch die zahlreichen verwinkelten Gänge des Basars, vorbei an Lampion-Geschäften, an bunten Keramik-Vasen, Tüchern und an Teppichen.

Der Mann zeigt auf einen dieser Allesverkäufer-Läden. Hier soll ich reingehen. Dann verschwindet er ebenso schnell wieder, wie er aufgetaucht war. Ein anderer Mann, jünger, mit gepflegtem Vollbart kommt auf mich zu. Er führt mich in den hinteren Teil des Geschäfts, bietet mir den obligatorischen Tee an. „Please wait a moment“, sagt er und verschwindet dann. Zehn Minuten lang geschieht nichts. Der Tee ist inzwischen ausgetrunken. Noch immer heißt es warten. Nach weiteren zehn Minuten erscheint die nächste Person. Ähnlich jung, Kurzhaarschnitt, Dreitagebart.

Nach dem üblichen Smalltalk kommt er erstaunlich direkt auf den Grund meines Besuchs zu sprechen. „Du brauchst einen Paß? Was stellst du dir vor?“ Über meine zurechtgelegte Geschichte, als Flüchtlingshelfer einen Paß für einen Afghanen besorgen zu wollen, ist er bereits im Bilde. Und will von mir wissen, welches Ausweisdokument es denn sein soll. „USA oder EU? Wir können auch Schweiz, Norwegen, Kanada oder Australien besorgen.“

Wer mit „wir“ gemeint ist, verrät er zwar nicht. Doch der Mangel an Mißtrauen überrascht. Keine weiteren Fragen nach dem Afghanen, keine Nachfragen zu meiner Person. Einzig bei der Frage nach einem Paßfoto des Afghanen wird es etwas heikel. „Wieso hast du das nicht gleich mitgebracht?“ Ich sage, daß ich das zum ersten Mal mache und nicht wußte, daß es schon sofort benötigt werde. Ungläubiger Blick des Händlers. Dann ein Satz von ihm, der aufhorchen läßt: „Ihr macht das doch schon länger, das solltet ihr eigentlich wissen.“ Mit „Ihr“ sind in diesem Fall offensichtlich „Flüchtlingshelfer“ gemeint. Besorgen NGOs auf diese Weise etwa gefälschte Pässe für Migranten? Doch Näheres darüber läßt sich dem Händler nicht entlocken. Nur, daß die Anfragen nach Pässen zugenommen hätten, bestätigt er.

„Für einen deutschen Paß brauchst du mindestens 5.000 Euro.“ Er kramt eine Mappe hervor, zeigt Fotos von Reisepässen. „Sind wie echt“, erklärt er nicht ohne Stolz. Außer dem Paßfoto benötige er noch die Handy-Nummer des vorgeblichen afghanischen Flüchtlings. Ich sage zu, beides von ihm noch zu besorgen. Interessant: Nach der Ankunft in Deutschland werde sich jemand mit dem Flüchtling in Verbindung setzen, dem er das Reisedokument dann übergeben müsse, informiert der Händler.

Auch Pässe aus anderen EU-Staaten seien möglich. Dokumente aus osteuropäischen Ländern seien günstiger zu haben. Andere Pässe wiederum würden bis zu 12.000 Euro kosten. US-Ausweise seien am teuersten, Dokumente aus klassischen Flüchtlingsstaaten, die die Chancen auf Asyl erhöhen, seien dagegen schon für knapp tausend Euro zu bekommen.

Anders als in Bangkok, wo ich mich schon einmal auf die Spur der Paßfälscher begeben hatte und man sofort Geld für die kriminelle Dienstleistung einforderte, läuft das Gespräch in Istanbul ungewöhnlich und erschreckend entspannt ab. So, als hätte man gerade ein Reisebüro betreten, um seinen Flug nach Deutschland zu buchen.

Der Händler schickt mich zurück nach Aksaray, nennt ein Internet-Café, vor dem sich der vorgebliche afghanische Flüchtling bereits um 17 Uhr einfinden soll. Hätte man doch eigentlich gleich alles dort regeln können. Der Umweg über den Basaar erschließt sich mir nicht ganz. Mit Paßfotos und Mobiltelefon soll der Afghane vor dem Internet-Café erscheinen. Letzteres könne man für den „Kunden“ auch besorgen, falls gewünscht. „Kostet dann aber extra“, erklärt der Händler.

Den Termin vor dem Internet-Café muß ich platzen lassen. Ein afghanischer Flüchtling als Köder für die Paßfälscher steht nicht zur Verfügung. Wie es dann weitergeht, wird jedoch aus Gesprächen der JF mit Syrern deutlich, die bereits in Deutschland leben. Landsleute seien demnach sogar mehrfach nach bereits erfolgter Rückführung in die Türkei wieder in Deutschland aufgetaucht. Mal über Schweden, mal über die Niederlande oder mit neuen Ausweisdokumenten direkt zurück in die Bundesrepublik gereist.

Wer sich die teure Variante mit falschem Paß nicht leisten kann, probiert es über die neuen Migrationsrouten nach Europa. Neben den derzeitigen Hauptrouten über den Balkan und Italien hat sich auch Zypern zunehmend zu einem Einfallstor für illegale Migranten in die Europäische Union entwickelt. 

Flüge in das von der Türkei besetzte Nordzypern sind ohne Visum möglich. Und das nicht nur von Istanbul. Selbst von der nahe der syrischen Grenze befindlichen Stadt Gaziantep aus gibt es Direktflüge. Von dort sind es keine 20 Kilometer bis zur Hauptstadt Nikosia, durch dessen Zentrum die Demarkationslinie verläuft, die das griechisch geprägte EU-Mitglied Zypern vom türkisch besetzten Norden der Insel trennt, der nicht zur Europäischen Union gehört.

Im Vergleich zum vergangenen Jahr ist die Einreise illegaler Migranten dort um 122 Prozent sprunghaft angestiegen. Allein 60 Prozent der Migranten erreichen den EU-Teil der Insel über diese Route. Darunter nicht nur Syrer, sondern auch zahlreiche Schwarzafrikaner, besonders aus Nigeria. Zudem macht die geographische Nähe zum stark mit syrischen Flüchtlingen bevölkerten Libanon die Insel als Migrationsroute nach Europa zusätzlich interessant. So hat Zypern mittlerweile innerhalb der Europäischen Union die höchste Zahl an Asylbewerbern pro Kopf. Bereits seit Monaten schlägt das Land bei der EU Alarm, weil der massive Anstieg an Neuankommenden die Kapazitätsgrenzen der Insel übersteigt.

In Ägypten leben neun Millionen Migranten und Flüchtlinge 

Wer sich auf dem Seeweg von der Türkei aus Richtung EU aufmacht, umgeht jetzt die inzwischen gut kontrollierten vorgelagerten griechischen Inseln Kos, Chios, Samos oder Lesbos. Zudem hatten sich auch unter den Migranten die oftmals kritisierten Zustände in den dortigen Camps wie etwa dem berüchtigten Lager Moria auf Lesbos herumgesprochen. Schleuser bringen die Migranten daher nun durch die Ägäis nach Italien, an die Ostküste Kalabriens. Was die Route für die Migranten nicht nur länger, sondern auch gefährlicher macht.

Noch eine weitere Stadt entwickelt sich zunehmend zur Drehscheibe für Migranten: Kairo. Kein  Wunder. Denn nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) ist die Zahl der internationalen Migranten, die sich derzeit in Ägypten aufhalten, auf insgesamt neun Millionen Migranten und Flüchtlinge gestiegen. 

Für zahlreiche Afrikaner sind von der ägyptischen Hauptstadt aus visumfreie Flüge nach Istanbul möglich. Sie umgehen damit auch die gefährliche Route durch Libyen und die ebenfalls gefahrvolle Fahrt über das Mittelmeer nach Italien. Entsprechend viele Schwarzafrikaner tummeln sich daher auch in den Gassen des Istanbuler Stadtteils Aksaray, um sich an die dortigen Schleuser und Paßfälscher zu wenden. Wie sie in die EU und letztlich nach Deutschland gelangen, ist dann nur noch eine Frage des Preises.

Foto: Istanbuls Stadtteil Aksaray: Flüge in das von der Türkei besetzte Nordzypern sind ohne Visum möglich. Daher werden sie gerne genutzt