© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 42/22 / 14. Oktober 2022

Symbolisch aufgeladen
Suche nach einem eigenen Stil: Die politische Architektur der US-Hauptstadt Washington
Paul Leonhard

Washington überrascht. Mit seiner Blütenpracht, mit Parkanlagen und Touristen, die auf den Rasenflächen vor dem Kapitol picknicken. Gleichzeitig demonstriert die Stadt die Macht jenes Imperiums, als dessen Hauptstadt sie künstlich angelegt wurde: Monumentale, gefühlt Hunderte Meter lange Klötzer von Verwaltungsgebäuden, fast fensterlose Museumsbauten, geschmückt mit böse blickenden Adlern und als einzige Farbtupfer riesige Sternenbanner. All das wird wiederum aufgehoben durch bunte Mini-Trucks, aus denen Hotdogs, Brezeln, Pizza, Softgetränke und Eis zu nervenden Melodien verkauft werden – Welcome in Washington D.C.

Die beiden Buchstaben stehen für District of Columbia und sollen eine Verwechslung mit dem Bundesstaat Washington verhindern, erinnern aber auch daran, daß die Hauptstadt territorial unabhängig ist. Nach dem Willen der US-Gründerväter sollte die junge Nation ein Zentrum erhalten, das Aufbruch und Zukunft symbolisiert. Das Baugelände wurde am Potomac-River gefunden. Mit dem Masterplan für die „federal city“ wurde der französische Armeeingenieur Pierre Charles L’Enfant beauftragt, der wiederum mit Paris und dem Gelände von Versailles vertraut war und barocke Landschaftsarchitektur liebte.

Was er plante und schuf, wurde zwar hundert Jahre später überformt, dann aber soweit möglich wiederhergestellt. L’Enfant wählte die Standorte für die noch immer wichtigsten Gebäude der geplanten Hauptstadt sorgfältig aus: das Kapitol, von William Thornton noch ohne die beiden Flügel aus Marmor für den Senat und das Repräsentantenhaus und ohne die gußeiserne Kuppel entworfen, wurde auf einem kleinen Bergrücken errichtet. Von dem Gebäude führt eine Allee zum auf einem kleineren Hügel gelegenen Präsidentenpalast. Das sollte die in der Verfassung vorgesehene Gewaltenteilung im Stadtgrundriß symbolisieren.

1792 wird mit dem Bau des Weißen Hauses begonnen, ein Jahr später der Grundstein für das Kapitol gelegt, in dessen Mitte die Rotunde als repräsentativer Zentralraum angelegt wurde. Auch das zentrale Straßennetz, das L’Enfant für die Stadt entwarf, erwies sich als zukunftsfähig. Trotzdem symbolisierte die Stadt Ende des 19. Jahrhunderts noch nicht das, was sich die selbstbewußter gewordenen Vereinigen Staaten, die inzwischen das spanische Kolonialreich in mehreren Kriegen in die Knie gezwungen hatten, als eine Metropole vorstellten, die die ganz Welt beeindrucken sollte. Anläßlich der Hundertjahrfeier der ersten Kongreßtagung in Washington wurden deswegen die besten Architekten, Künstler und Landschaftsplaner der USA beauftragt, die stadtplanerischen Ideen L’Enfants auf ihre Eignung für das 20. Jahrhundert zu überprüfen und gegebenenfalls zu verfeinern. Im Zuge dessen entstanden Denkmäler, mächtige Bundesbauten, Parks und Museen, häufig vom Klassizismus inspiriert, der für Rationalität, Schönheit, Ordnung und Ausgewogenheit steht – alles symbolisch aufgeladen.

War schon der von L’Enfant in Absprache mit George Washington und Thomas Jefferson vorgelegte Masterplan darauf ausgelegt, die Hauptstadt als symbolischen Raum anzulegen, in dem sich die amerikanische Geschichte, Politik und nationalen Werte in Idealkonstruktion widerspiegeln sollten, wurde Washington ab 1901 durch die unter der Leitung des Chicagoer Architekten Daniel H. Burnham tätigen Senate Park Commission als „patriotische Erinnerungslandschaft in weiten räumlichen wie symbolischen Dimensionen“ ausgebaut, wie Anna Minta in ihrem 2015 erschienenen Buch „Staatsbauten und Sakralarchitektur in Washington/DC. Stilkonzepte patriotischer Baukunst“ schreibt. Minta untersucht darin detailliert die nationale Selbstinszenierung von der Staatsgründung 1776 bis in die in Washington spät einsetzende Moderne in den 1940er Jahren.

Daß sich Washington im Gegensatz zu anderen nordamerikanischen Metropolen einen ganz eigenen Charme bewahrt hat, hängt mit den seit Anfang des 20. Jahrhunderts geltenden strengen Bauvorschriften zusammen. Der Height of Buildings Act von 1910 schrieb fest, daß kein Gebäude höher als 40 Meter und kein Bürobau höher als die Breite der angrenzenden Straße plus 6,1 Meter sein darf.

Auch bemühten sich die Kommission zur Planungssteuerung und ästhetische Kontrollinstitutionen bis weit in die Mitte des 20. Jahrhunderts erfolgreich, „Projekte der architektonischen Moderne, wie sie sich international unter den Schlagworten Funktionalismus, Rationalismus und Ornamentlosigkeit entwickelt hatte, im symbolisch codierten, weitgehend klassizistischen respektive neoklassizistischen Stadtraum des Zentrums zu verhindern“, so Minta. Allerdings wurden die viktorianischen Parkanlagen durch die National Mall als offener Raum mit flankierenden öffentlichen Gebäuden ersetzt.

In Washington wurde letztlich all das architektonisch nachempfunden, was US-Architekten in der Welt entdeckten und für bewahrenswert hielten – vor allem römische und griechische Antike. Gleichzeitig sollte aber für das „auserwählte Land“ (chosen country), wie es Thomas Jefferson in seiner Antrittsrede als Präsident am 4. März 1801 formulierte, eine eigene Architektursprache gefunden werden, die, wie von den Gründervätern erträumt, symbolisch das neue politische System der jungen demokratischen Republik zum Ausdruck bringen sollte. Einen Versuch startete bereits im frühen 19. Jahrhundert der Baumeister Benjamin Latrobe, in dem er in die sonst mit Akanthusblättern versehenen Kapitelle Maiskolben, Tabakblüten und Magnolienblüten einarbeitete, um mit diesen für Amerika typischen Pflanzen ein nationales Zeichen zu setzen. Als aber das Kapitol erweitert wurde, griffen die Architekten auf die etablierten klassischen Antikenordnungen zurück: dorisch, ionisch, korinthisch.

Ob es den USA gelang, einen eigen Stil zu prägen, ist umstritten. Von einer internationalen Mischung spricht die Architekturkritikerin Jackie Craven: „Berühmte Gebäude im Distrikt beinhalten Einflüsse aus dem alten Ägypten, dem klassischen Griechenland und Rom, dem mittelalterlichen Europa und dem Frankreich des 19. Jahrhunderts.“ Das Weiße Haus, ursprünglich ein nüchternes Haus im georgianischen Stil Irlands, wurde nach seiner Zerstörung durch die Briten 1814 in ein neoklassizistisches Herrenhaus verwandelt. Das in unmittelbarer Nachbarschaft stehende „Old Executive Office Building“ erinnert dagegen mit seiner aufwendigen Fassade und seinem hohen Mansardendach an Gebäude in Paris. Der Hauptbahnhof sei Gebäuden im alten Rom nachempfunden und biete kunstvolle Skulpturen, ionische Säulen, Blattgold und prächtige Marmorkorridore in einer Mischung aus neoklassizistischen und Beaux-Arts-Designs und auf dem Vorplatz auf Säulen hockende vergoldete Adler.

Insbesondere deutsche Touristen fühlen sich von all der patriotischen Symbolik weniger an gebaute Demokratie erinnert als an die Parteitagsfilme von Leni Riefenstahl und die Modelle einer nationalsozialistischen Welthauptstadt „Germania“. „Das sieht ja aus, als ob Hitler den Krieg gewonnen hätte“ – so zitierte das Hamburger Magazin Spiegel unter dem Titel „Ein Hauch von Albert Speer“ einen namenlosen ehemaligen GI beim Anblick der Pläne für ein Weltkrieg-II-Denkmal. Das Ehrenmal in Gold, Bronze und Granit würde „an die Ästhetik des besiegten Feindes“ erinnern.

Nationale Institutionen – staatliche wie religiöse – hätten auf historische Stilvorbilder und Bautypologien Europas zurückgegriffen sowie Traditionskonstruktionen bemüht, um wirkungsmächtige Gebäude und Nationaldenkmäler in Washington zu errichten, schreibt Anna Minta: „Stil, Form und Ikonographie von Historismen sind Bestandteil einer kollektiven Erinnerungskultur und tragen darüber zur nationalen Identitätsstiftung bei.“ Fachkreise, Politik, Kirche sowie die Öffentlichkeit hätten als Akteure der Gestaltungsprozesse leidenschaftlich um den Gebrauch von Historismen diskutiert, so daß die „in Architektur übersetzten, konstruierten Bilder der Vergangenheit von weiten Teilen der Bevölkerung gelesen und verstanden“ werden.

Die 4,8 Kilometer lange und 500 Meter breite Nationalpromenade The Mall wird auf der einen Seite vom Lincoln-Memorial und auf der anderen Seite vom Kapitol begrenzt. Seit 1966 steht sie unter dem Schutz des „Nationalen Registers historischer Plätze“. Ursprünglich nur bis zum weißen Marmorturm des Washington-Denkmals reichend, wurde sie später um eine Meile verlängert, wobei sich die Symbolik vom barocken Frankreich ins antike Griechenland und Rom verlagert, wie das mit seinen 36 dorischen Säulen, die die damalige Anzahl der US-Staaten symbolisieren, einem griechischen Tempel gleichende Lincoln-Denkmal verdeutlicht. Es bildete am 28. August 1963 auch die Kulisse für die berühmte Rede „I have a Dream“ von Martin Luther King Jr., der inzwischen am Westufer eines künstlich angelegten Sees eine eigene Erinnerungsstätte erhalten hat.

Sowohl im städtischen Design als auch in der öffentlichen Architektur seien in Washington „kaum Elemente mit starker demokratischer Symbolkraft zu finden“, schreibt Michael Minkenberg in seinem 2020 erschienenen Buch „Neue Hauptstädte in neuen Demokratien: Washington, DC, und Brasília“: „Es überwiegen in beiden Städten nichtdemokratische Formen: Rückgriffe auf die Architektur der römischen Kaiserzeit und des europäischen Barocks, Vorgriffe auf eine nie realisierte egalitäre Zukunft, die faktisch der Exekutive und Bürokratie gehören sollte.“ Auffallend sei „die bewußt angestrebte monumentale axiale Raumordnung in Kombination mit neo- oder rudimentär klassizistischen Ideen“.

„Architekten und Bauherren bedienten sich zwar des europäischen Formenrepertoires und historiographischer Konstrukte, dabei waren architektonische Entwürfe jedoch meist auch auf Abgrenzung und Überbietung gegenüber dem alten Europa angelegt“, findet Anna Minta. Eines aber unterscheidet die politische Architektur in der Alten und der Neuen Welt. Bürgerzugänglichkeit und Offenheit waren wichtige Forderungen an die Bauten kolonialer Selbstverwaltung der Amerikaner. So erhielt das Kapitol Aussichtsplattformen, Zuschauergalerien und Freitreppen.

Für den Architekturkritiker Nikolaus Bernau ist das Kapitol „auch eine Ruhmeshalle, ein Kunstmuseum, eine Gedenkstätte“, aber vor allem „ein Symbol der amerikanischen Demokratie“, das von Anfang an als offenes Haus geplant war: „Das Volk sollte sich versammeln – allerdings friedlich.“ Seit dem „Sturm“ auf das als patriotischer Identifikations- und Repräsentationsort des Staates und der Nation geltende Gebäude durch Anhänger des gerade abgewählten Präsidenten Donald Trump am 6. Januar 2001 ist davon wenig zu spüren. Schwere Metallgitter in mehreren Reihen, Polizisten und Überwachungskameras halten US-Bürger und Touristen auf Distanz.