© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 42/22 / 14. Oktober 2022

Zur Literatur- und Kulturgeschichte des Impfens
Seltsam emotional aufgeladene Debatten
(dg)

Die Medizingeschichte hat derzeit Hochkonjunktur. Mit Blick auf die Bedrohungsszenarien der Corona-Pandemie fragen Publikumsmedien mit Wißbegier nach den Schrecken der Pest, nach Ausbrüchen von Pocken, Syphilis und Cholera in der Frühen Neuzeit. Vor dem Hintergrund der gängigen Vorstellung, man müsse aus der Geschichte lernen, gilt das öffentliche Interesse zugleich der Geschichte des Impfens und hier vor allem der Pockenimpfung. Sie ist seit 1799, als der englische Landarzt Edward Jenner die Pockenschutzimpfung begründete, für mehr als hundert Jahre die einzige Impfung, bevor 1885 Louis Pasteurs Tollwutimpfung eine zweite Immunisierung gegen eine Infektionskrankheit einführte. Wie Martina King (Lehrstuhl für Medical Humanities, Universität Fribourg) in ihrer Pionierstudie zur „Literatur- und Kulturgeschichte des Impfens im frühen 19. Jahrhundert“ (KulturPoetik, 2/2021) anhand einer „Flutwelle“ von Pro- und Contra-Impf-Schriften nachweisen will, sei es schon immer schwierig gewesen, rational über einen vermeintlich allein medizinisch relevanten Eingriff zu diskutieren. Die breite Gesellschaftsschichten erfassende Debatte um das Einbringen einer fremden organischen Substanz in den menschlichen Körper sei auch um 1800 „seltsam emotional aufgeladen“ gewesen und schwankte zwischen Verschwörungsideen und Dämonisierung einerseits, Begeisterung und Sakralisierung andererseits. Die Leidenschaftlichkeit der damaligen Kontroversen scheine sich als „kulturelles Erbe“ erhalten zu haben, wie die aktuellen Auseinandersetzungen über das Impfen im „molekularen Zeitalter“ zeigen. 


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