© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 42/22 / 14. Oktober 2022

GegenAufklärung
Kolumne
Karlheinz Weißmann

Wenn die Annahme des Soziologen Niklas Luhmann zutrifft, daß moderne Gesellschaften sich in erster Linie über ihr Funktionieren Legitimität verschaffen, muß einem angst und bange werden. Denn ganz gleich, wie man einzelne Fragen der Außen-, Innen-, Verteidigungs-, Gesundheits-, Bildungs-, Verkehrs- oder Familienpolitik beurteilt: Im Kern funktioniert da nichts, wie es funktionieren sollte.

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Kindermund: Knirps 1 zu Knirps 2: „Putin ist voll hohl. Nur du bist noch hohler.“

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Bildungsbericht in loser Folge: „Schon der Begriff Leistung oder Leistungsüberprüfung ist negativ besetzt. Wenn man die Schule mit einem Auto vergleichen würde, werden in Berlin die Sitze besonders gepolstert, das Auto besonders farblich gestaltet, darüber gesprochen, ob noch mehr Lenkräder eingebaut werden müssen und wie die Sitze positioniert werden sollen. Der Motor wird aber nicht betrachtet, und bei der nächsten Geschwindigkeitsmessung wird im Vergleich zu den anderen Autos festgestellt, daß man wieder bei den langsamsten war.“ (Arnd Niedermöller, Schulleiter am Immanuel-Kant-Gymnasium in Berlin-Lichtenberg, Vorsitzender der Vereinigung der Oberstufendirektoren Berlin und Vorsitzender der Bundesdirektorenkonferenz Gymnasien)

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Mit Datum des 15. September hat Ungarn sein Abtreibungsrecht neu gefaßt. Bisher war ein Schwangerschaftsabbruch innerhalb der ersten zwölf Wochen straffrei möglich. In Zukunft muß ein behandelnder Arzt die Mutter darüber aufklären, was der Eingriff für den Embryo bedeutet und sie dessen Herzschläge hören lassen, bevor die Tötung vorgenommen werden darf.

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Greisenmund: Die Seniorin: „Junge, warum ist es hier im Zimmer so kalt?“ Der Sohn: „Die Regierung hat gesagt, wir müssen Gas sparen.“ Die Seniorin: „Ach, der kleine Kanzler macht doch nur Unsinn.“

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Im Rahmen der unsäglichen Debatte über die polnischen Reparationsforderungen wurde von deutscher Seite gelegentlich angemerkt, man solle sich doch auf die Politik der „Aussöhnung“ besinnen, die ihren Anfang mit der sogenannten „Ostdenkschrift“ der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) genommen habe. In diesem 1965 veröffentlichten Text wurde seitens der EKD der Verlust der Gebiete jenseits der Oder-Neiße-Linie nicht nur anerkannt, sondern auch – mitsamt der Vertreibung – moraltheologisch gutgeheißen als Buße, die dem deutschen Volk als „Schuldgemeinschaft“ auferlegt worden war. Darauf antwortete der polnische Episkopat mit einem Brief, der die berühmte Formel enthielt „[Wir] gewähren Vergebung und bitten um Vergebung.“ An dieser Stelle endet das übliche Narrativ. Ausgeblendet wird aber nicht nur die intensive Debatte, die die Ostdenkschrift in der Bundesrepublik auslöste, sondern auch, zu welchen Reaktionen sie in Polen führte. Unter dem Druck massiver Proteste, nicht nur der kommunistischen Staatsführung, sahen sich die Bischöfe gezwungen, am 6. März 1966 einen Hirtenbrief verlesen zu lassen, der nicht nur klarstellte, daß man die Annexion Ostdeutschlands gemäß nationalpolnischer Lesart als Rückgewinn der Westgebiete – „unsere[r] Piastenheimat“ – verstanden wissen wollte, sondern auch von polnischer Schuld keine Rede sein könne: „Hat das polnische Volk Grund dazu, um Vergebung zu bitten? Bestimmt nicht!“ Die hinter dieser Position stehende Überzeugung scheint bis heute die polnische Mentalität zu bestimmen, die auf deutscher Seite weniger überraschen würde, wenn man sich die tatsächlichen Abläufe der historischen Entwicklung vor Augen hielte.

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Jan Fleischhauer hat in seiner jüngsten Kolumne noch einmal auf sein Interview in der JUNGEN FREIHEIT Bezug genommen. Er wiederholt dabei die Behauptung, daß es im Grunde darum gehe, sich nicht dauernd über alles Mögliche zu empören und nur schwarzzusehen. So weit, so erwartbar. Was allerdings nervtötend wirkt, ist der dabei zu Tage tretende Überlegenheitsgestus Fleischhauers, verbunden mit der Neigung, jede Parteinahme und jeden Einsatz spöttelnd zu betrachten. Nun ist Ironie selbstverständlich Teil der konservativen Geisteshaltung, aber doch bitte nur wohldosiert. Vorherrschend, führt sie zu jener unfruchtbaren Neigung, gar nichts ernstzunehmen, oder sich irgendwo als Hofnarr zu verdingen, der aus ungefährdeter und komfortabler Stellung die eine oder  andere Wahrheit plaziert, ohne daß das irgendwelche Folgen nach sich zöge.

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Greg Abbott, der republikanische Gouverneur von Texas, hat zwei Busse mit mehr als 100 illegalen Einwanderern aus Kolumbien, Kuba, Guyana, Nicaragua, Panama und Venezuela an der Residenz der US-Vizepräsidentin Kamala Harris in Washington DC absetzen lassen. Zeitgleich schickte sein Amtskollege Ron DeSantis, republikanischer Gouverneur Floridas, 50 Migranten aus Venezuela per Flugzeug nach Martha’s Vineyard, dem exklusiven Ferienort der Ostküstenelite. Die Reaktion des Präsidenten ließ nicht lange auf sich warten. „Es ist falsch (…) Es ist unamerikanisch. Es ist unverantwortlich“, erklärte Biden. DeSantis reagierte mit dem lapidaren Hinweis: „Jede Gemeinde sollte die Lasten schultern.“ 


Die nächste „Gegenaufklärung“ des Historikers Karlheinz Weißmann erscheint am 28. Oktober in der JF-Ausgabe 44/22.