© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 42/22 / 14. Oktober 2022

So knapp war es bis heute nicht
Im Oktober 1962 hielt die Kuba-Krise die Welt in Atem: Ein Atomkrieg schien nicht mehr unwahrscheinlich
Thomas Schäfer

Ende der 1950er Jahre eskalierte das Wettrüsten zwischen den USA und der Sowjetunion. So begannen die beiden Supermächte nun auch mit der Stationierung von Mittelstreckenraketen samt Atomsprengköpfen in möglichst geringem Abstand zum gegnerischen Territorium, um die Vorwarnzeiten zu verkürzen. Dabei geriet die UdSSR bald deutlich ins Hintertreffen, weil die fünfzig US-Raketen vom Typ PGM-19 Jupiter im türkischen Izmir eine wesentlich größere Bedrohung darstellten als das, was Moskau an vergleichbaren Erstschlagwaffen gegen die Vereinigten Staaten aufbieten konnte. Immerhin waren die Jupiter sogar in der Lage, die sowjetische Hauptstadt zu erreichen. Dann freilich gelangten 1959 auf Kuba kommunistische Rebellen unter Fidel Castro an die Macht, welche die Annäherung an die Sowjetunion suchten. Diese witterte daraufhin die Chance, ihr strategisches Defizit gegenüber den USA durch Mittelstreckenraketen auf der Karibikinsel auszugleichen, denn die lag nur 170 Kilometer südlich von Florida.

Sowjets planten auch eine massive Truppenpräsenz in der Karibik

Der endgültige Entschluß hierzu fiel am 21. Mai 1962 während einer Zusammenkunft des UdSSR-Verteidigungsrates unter der Leitung des KPdSU-Generalsekretärs Nikita Chruschtschow. Drei Tage später beendete der Generalstab der sowjetischen Armee die Detailplanung für die Operation Anadyr, welche vorsah, bis zu 50.874 sowjetische Soldaten unter dem Oberbefehl von Armeegeneral Issa Plijew nach Kuba zu verlegen. Dem zweifachen Helden der Sowjetunion, der vor der Übernahme des Kommandos noch den Arbeiteraufstand von Nowotscherkassk mit Panzern niederschlug, sollten dabei folgende Einheiten unterstehen: die 43. Raketendivision mit insgesamt 64 nuklear bestückten Mittelstreckenraketen der Typen R-12 (SS-4 Sandal) und R-14 (SS-5 Skean), das 561. und 584. Raketen-Regiment mit je 40 Marschflugkörpern FKR-1 (SSC-2A Salish), die ebenfalls Kernsprengköpfe tragen konnten, sechs Il-28-Bomber mit jeweils einer 407H-Atombombe an Bord, drei Abteilungen mit zwölf taktischen ballistischen Raketen 3R9 Luna-1 (FROG-3) mit 3N14-Nuklearsprengköpfen, zwei Luftabwehr-Divisionen mit zahlreichen Flugabwehrraketen S-75 Dwina (SA-2 Guideline), das 213. Jagdgeschwader mit 40 MiG-21-Flugzeugen, drei Küstenschutz-Bataillone mit Boden-Boden-Flugkörpern S-2 Sopka (SSC-2B Samlet), zwei Panzerbataillone mit T-55-Panzern und zwölf Flugkörper-Schnellboote der Komar-Klasse. Außerdem war vorgesehen, im Zuge der parallelen Operation Kama noch sieben konventionell angetriebene, aber mit Nukleartorpedos ausgerüstete U-Boote der Foxtrott-Klasse in Mariel bei Havanna zu stationieren.

Die Operation Anadyr begann am 10. Juli 1962. Nachfolgend transportierten 86 sowjetische Schiffe während 183 Fahrten, die unter äußerst konspirativen Bedingungen stattfanden, 42.000 Mann und 230.000 Tonnen Ausrüstung von Sewastopol, Feodossija, Nikolaew, Poti, Kronstadt, Liepāja (Libau), Baltijsk (Pillau) und Murmansk nach Kuba. Damit handelte es sich hier um die größte sowjetische Geheimoperation während des Kalten Krieges. Allerdings blieb den USA nicht lange verborgen, was der Gegner trieb: Bereits während der Monate August und September machten Höhenaufklärungsflugzeuge des US-Auslandsgeheimdienstes Central Intelligence Agency (CIA) vom Typ Lockheed U-2 Dragon Lady Aufnahmen von konventionellen sowjetischen Flugabwehrraketen auf Kuba. 

Dem folgten dann am Sonntag, dem 14. Oktober 1962, weitere U-2-Einsätze über der Insel, in deren Verlauf auch Fotos von den im Bau befindlichen SS-4-Startrampen unweit von San Cristóbal in der Provinz Pinar del Río geschossen wurden. Von dort aus hätten die kernwaffentragenden Mittelstreckenraketen mit 2.000 Kilometern Reichweite auch größere Teile des US-Staatsgebietes erreichen können. Damit begann die sogenannte Kubakrise, durch die der Kalte Krieg in eine neue Dimension eintrat und beinahe in eine direkte militärische Auseinandersetzung zwischen den beiden Supermächten übergegangen wäre.

Am 15. Oktober wurden zunächst der Außen- und der Verteidigungsminister der USA über die Entdeckung informiert und am Folgetag dann auch Präsident John F. Kennedy. Anschließend begann ein eigens einberufener Beraterstab namens Executive Committee (ExComm) die möglichen Reaktionen zu erörtern. Am 17. Oktober wiederum traf die Nachricht ein, daß die U-2 jetzt auch SS-5-Raketen mit 4.500 Kilometern Reichweite auf Kuba entdeckt hätten. Damit bestand nun sogar eine akute Bedrohung für Washington und die meisten anderen US-Großstädte. Deshalb plädierten einige Generäle im ExComm für sofortige Luftschläge gegen Kuba samt anschließender Invasion. Kennedy hingegen bevorzugte das deutlich mildere Mittel der Blockade der Insel zur See. Die endgültige Entscheidung für eine solche fiel am 21. Oktober, weil das Militär nicht garantieren konnte, alle Raketen auf Kuba durch Bombenangriffe auszuschalten.

Am 22. Oktober wurde die Kubakrise dann öffentlich, als der US-Präsident den Beginn der Seeblockade, genannt „Quarantäne“, gegen Kuba für den 24. Oktober ankündigte und die UdSSR aufforderte, ihre Raketen abzuziehen. Doch Moskau reagierte zunächst ablehnend. Dann freilich zeigte Chruschtschow sich am 26. Oktober erstmals kompromißbereit, während die US-Marine nun sowjetische Frachter auf dem Wege nach Kuba anzuhalten begann und Castro den Kremlchef ersuchte, im Falle eines amerikanischen Angriffs auf die Insel mit Nuklearschlägen zu antworten. Worauf Chruschtschow allerdings recht unwirsch reagierte: „Lieber Genosse Castro, ich halte Ihren Vorschlag für unkorrekt.“

Die USA mußten im Gegenzug Raketen aus der Türkei abziehen

Am nächsten Tag verlangte der KPdSU-Generalsekretär als Preis für den Abzug der Raketen eine formelle Garantie, daß keine US-Invasion in Kuba erfolge. Außerdem müßten alle amerikanischen Jupiter-Raketen aus der Türkei verschwinden. Dem stimmte Kennedy am Abend des 27. Oktober zu. Daraufhin lenkte Chruschtschow seinerseits am 28. Oktober offiziell ein, womit die Kubakrise beigelegt war.

Der Rücktransport der nach Kuba verbrachten sowjetischen Mittelstreckenraketen begann am 5. November 1962 und dauerte bis Januar 1963. Dennoch beendeten die USA die Seeblockade rund um die Insel schon am 20. November. Chruschtschow wiederum gab Kennedy die Chance, als scheinbarer Sieger aus dem Ringen hervorzugehen, indem er nicht darauf bestand, daß der Abzug der in Izmir befindlichen Jupiter-Raketen publik gemacht wurde und kurzfristig erfolgte. Deswegen zog sich die geräuschlose Umsetzung dieses Teils der Vereinbarung noch bis 1964 hin.

Die Kubakrise zeitigte mehrere bedeutsame Folgen. Zum ersten verstärkte sie sowohl in der Sowjet-union und als auch in den USA das ohnehin schon bestehende Mißtrauen zwischen der Militärführung und der Regierung. So hatten die Generäle im ExComm noch am 27. Oktober vehement Luftangriffe auf Kuba gefordert, während sich schon eine gütliche Einigung mit Moskau abzeichnete. Dies führte zum Erlaß des National Security Action Memorandum No. 272, mit dem Kennedy dem Vorsitzenden der Vereinigten Stabschefs die Verfügung über die nuklearen Angriffssysteme entzog und sicherstellte, daß künftig nur noch der Präsident als Oberbefehlshaber der Streitkräfte Atomschläge autorisieren konnte.

Zum zweiten leitete die Kubakrise eine Phase der Entspannung zwischen den Supermächten ein, in deren Verlauf es auch zum Abschluß einiger Verträge über Rüstungskontrolle kam. Und zum dritten vereinbarten Moskau und Washington die Einrichtung des sogenannten „Heißen Drahtes“, einer direkten Fernschreibverbindung zwischen dem Weißen Haus und dem Kreml, um in Krisensituationen schnell miteinander kommunizieren zu können. Dadurch hätte sich beispielsweise der höchst gefährliche Vorfall vom 27. Oktober 1962 vermeiden lassen.

Wie im Herbst 2002 während einer Konferenz zum 40. Jahrestag der Kubakrise in Havanna bekannt wurde, wäre an diesem Tage beinahe der Atomkrieg ausgebrochen. Denn das sowjetische U-Boot B-59, welches damals von der Zerstörer-Begleitgruppe des US-Flugzeugträgers „Randolph“ mit Übungswasserbomben zum Auftauchen und Umkehren gezwungen wurde, hatte einen Torpedo mit Nuklearsprengkopf an Bord – und der Kommandant Walentin Sawitzki wollte diesen auch tatsächlich einsetzen, worin ihn sein Politstellvertreter Iwan Maslennikow bestärkte. Beide Offiziere interpretierten die inzwischen eigentlich schon überflüssig gewordene Aktion der US Navy nämlich als Beleg dafür, daß die UdSSR sich nun im Krieg mit den USA befinde. 

Allerdings riet der auf B-59 mitfahrende Stabs-chef der gesamten U-Bootflottille Wassili Archipow, welcher den Abschuß der Waffe als dritter hätte autorisieren müssen, dringend zur Besonnenheit. Und Archipow setzte sich dann auch durch, was vermutlich aus dem Ruf resultierte, der ihm aufgrund seines mutigen Verhaltens während der folgenschweren Havarie des Atom-U-Bootes K-19 im Juli 1961 vorauseilte. Über die Attacke auf die B-59 sagte der Historiker und Sonderberater von Kennedy und dessen Nachfolger Lyndon B. Johnson, Arthur Schlesinger, Ende 2002: „Dies war nicht nur der gefährlichste Moment des Kalten Krieges. Es war der gefährlichste Moment in der Geschichte der Menschheit.“ 

Foto: US-Aufklärungsflugzeug über dem Kriegsschiff USS Barry (vorne) und dem sowjetischen Frachter Anosow: Chruschtschow lenkte ein