© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 42/22 / 14. Oktober 2022

Putin deutet die russisch-ukrainische Verflechtungsgeschichte
Unfähig zur Staatsbildung
(ob)

Kein Krieg ohne historische Wurzeln – und kein Konflikt ohne Versuche der beteiligten Akteure, das eigene Handeln mit historischen Argumenten zu rechtfertigen. Aus dieser Normalität ragen für die Osteuropa-Historikerin Anna Veronika Wendland (Marburg) jedoch Wladimir Putins obsessive Bezugnahmen auf die „russisch-ukrainische Verflechtungsgeschichte“ weit heraus. Berühmt sei der im Juli 2021 auf einer Website des Kreml publizierte, vermutlich unter Beteiligung russischer Historiker als Ghostwriter verfaßte Aufsatz des Präsidenten, der nun als amtliche historische Begründung des Einmarsches in die Ukraine gelesen werden könne (Aus Politik und Zeitgeschichte, 28-29/2022). Putin liefere hier eine in den nationalistischen Denktraditionen des 19. Jahrhunderts verwurzelte Sicht auf die jahrhundertelange gemeinsame Geschichte, mit dem Ziel, der Ukraine jede Fähigkeit zur Staatsbildung und die Eigenständigkeit als Kultur und Nation abzusprechen. Damit wolle er historiographisch die These belegen, die künstliche Ukraine sei von feindlichen Mächten „erfunden“ worden, um Rußland zu schwächen. Dies sei eine bis hinein ins deutsche bürgerliche Milieu wirkende Erzählung, die Putins Deutung des aktuellen Konflikts untermauere, die Ukraine führe für USA und Nato einen Stellvertreterkrieg gegen Rußland. 


 www.bpb.de