© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 42/22 / 14. Oktober 2022

Ein Weltkrieg im Weltkrieg
Von wegen ein „Krieg der Pygmäen“: Über zwei Millionen Menschen verloren zwischen den Balkankriegen und der „Kleinasiatischen Katastrophe“ 1922 ihr Leben
Oliver Busch

Für den Gentlemen-Historiker Winston Churchill lag das Zentrum des Ersten Weltkrieges an der Westfront, in Frankreich und Belgien. Dort seien die Entscheidungsschlachten im „Krieg der Giganten“ geschlagen worden. Während an der Ostfront, die für Churchill vom Baltikum bis nach Mesopotamien verlief, lediglich ein „Krieg der Pygmäen“ tobte, der sich in einem „Nachspiel“ zwischen 1918 und 1922 sogar ganz auf Kleinasien beschränkt habe.  

Churchill hatte allen Grund, gerade „Krieg und Kriegsgeschrei hinten in der Türkei, wo die Völker aufeinander schlagen“, ohne den mitteleuropäischen Pfahlbürger zu stören, im Sinne von Goethes Versen zu bagatellisieren. Verbanden sich mit diesem Kriegsschauplatz doch peinliche Erinnerungen an ein kolossales Versagen. Niemand anders trug die Verantwortung für das blutige Scheitern eines im April 1915 gestarteten, ein halbes Jahr später liquidierten Landungsunternehmens auf der von Türken und Deutschen verteidigten Halbinsel Gallipoli, das 50.000 englische, australische und neuseeländische Soldaten für den vergeblichen Versuch opferte, den Entente-Mächten dort die Durchfahrt ins Schwarze Meer zu erzwingen.

Entente chaotisierte Kleinasien und die Levante bis in unsere Tage

Mag Churchill auch ein durchsichtiges persönliches Motiv gehabt haben, das gesamte südöstliche Kriegstheater auf „Pygmäen“-Format zu schrumpfen, so steht für den Athener Historiker Antonis Liakos gleichwohl fest, daß solche Ignoranz repräsentativ ist für das international immer noch virulente „westzentrierte Gesamtbild“ von der Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts (Lettre International, 138-2022). Darüber könne man sich angesichts der bis in unsere Gegenwart auf dem Balkan, in Klein- und Vorderasien fortwirkenden geopolitischen Weichenstellungen, die dort vor 100 Jahren getroffen wurden, allerdings nicht genug wundern. Zu erinnern sei nur an die arabischen Provinzen, Syrien, den Irak, Transjordanien, die damals dem Osmanischen Reich entrissen wurden – „sie bluten bis heute“. In diesen Kontext gehöre auch die in der Balfour Declaration von 1917 fixierte britische Verpflichtung, eine jüdische „Heimstatt“ auf dem überwiegend von Arabern besiedelten Territorium Palästinas zu schaffen, um das seit der Gründung des Staates Israel (1948) vier Kriege geführt worden sind – bislang.

Aus levantinischer Perspektive betrachtet, scheine in den Pariser Vorortverträgen den beutegierigen Siegern aber noch wichtiger als die „Erniedrigung und Schwächung Deutschlands“ gewesen zu sein, das Osmanische Reich zu tranchieren, das Großbritannien und Frankreich fast vollständig in ein von ihnen abhängiges, profitables, weil rohstoffreiches Kolonialgebiet verwandeln wollten. Das große Rad, das beide imperialistische Westmächte dabei drehten, als sie diesen Teil der Erde auf Generationen hinaus chaotisierten, ist für Liakos indes lange vor der militärischen Niederlage des Osmanischen Reiches in Schwung gekommen. Präzise im Oktober 1912, als eine Allianz von Balkanstaaten dazu ansetzte, der Hohen Pforte ihren europäischen Besitz zu entreißen. Resultat der komplexen Schlächtereien zweier bis zum August 1913 ausgefochtener Balkankriege war zwar tatsächlich der Verzicht der Osmanen auf ihren Balkan-Brückenkopf. Aber den welthistorischen Einschnitt, den diese Kriege bedeuteten, sieht Liakos nicht im Ende der muslimischen Herrschaft über einen Teil Südosteuropas, sondern im Vertrag von Konstantinopel vom 29. September 1913. 

Es war der erste Friedensvertrag der Geschichte, der einen Bevölkerungsaustausch mit dem Ziel ethnischer Entmischung vorsah. Damit trugen die Kontrahenten ihrer Erfahrung Rechnung, daß in den Balkankriegen, auch dies eine historisch Premiere, auf allen Seiten exzessive, ethnisch begründete Gewalt gegen Kombattanten und Zivilisten verübt wurden und die Akteure neue Maßstäbe der Unmenschlichkeit für das nahende Zeitalter der Extreme setzten, da sie erstmalig systematisch ethnische Säuberungen als Kriegswaffe erprobten.  Bis über die Schwelle des Völkermords hinaus, den die Osmanen im rückeroberten Ost-Thrakien an der bulgarischen Minderheit begingen. Von da, so schlägt Liakos den Bogen, sei es nicht weit gewesen zur 1915 getroffenen Entscheidung jungtürkischer Nationalisten, die armenische Minderheit im Nordosten ihres Reiches durch einen Genozid auszulöschen.      

Krieg mündete in die „Orgie der Metzeleien“ im türkischen Izmir

Die Entwicklung der Türkei bestimmten noch zwei andere, sie nachhaltig prägende Konsequenzen der Balkankriege: der Exodus Hunderttausender von Muslimen, die aus Südosteuropa nach Anatolien flohen, sowie die am Vorbild des ethnisch relativ homogenen deutschen Kaiserreichs angelehnte Politik der Jungtürken, „eine kompakte türkische Nation zu schaffen, frei von fremden Elementen, die in Zukunft den großen europäischen Staaten keinen Anlaß mehr bieten würden, sich in unsere internen Angelegenheiten einzumischen“. Damit hätten die führenden Politiker um Enver Pascha vor allem im Westen Kleinasiens, wo Griechen und Türken dieselben Gebiete bewohnten, tiefgreifende tektonische Verwerfungen vorbereitet, die 1922 ein katastrophales Erdbeben zeitigten. 

Denn durch die muslimischen Flüchtlinge, deren Zustrom 1916 infolge des türkisch-russischen Krieges und 1917/18 infolge der bolschewistischen Revolution anschwoll, veränderte sich die demographische Zusammensetzung Kleinasiens massiv zu Lasten der Christen. So sei eine „explosive Mischung“ entstanden. Sie ging hoch, als im Mai 1919 griechische Truppen zunächst die mehrheitlich von ihren Landsleuten bewohnten Küstenstädte Kleinasiens besetzten. Ermuntert von Franzosen und Engländern, die Griechenland in Versailles versprochen hatten, es dürfe als Belohnung für den Kriegseinsatz auf seiten der Entente später die Hand auf Smyrna (Izmir) und sein Hinterland legen. 

Doch der von zahllosen an Muslimen begangenen Kriegsverbrechen begleitete Vormarsch Richtung Anatolien geriet 1921 ins Stocken, weil die Entente Griechenland dafür im wortwörtlichen Sinn den Kredit entzog, um fortan die Türken zu unterstützen, die sie benötigten, um den Einfluß des Bolschewismus im kaukasisch-persischen Raum einzudämmen. Das Debakel der griechischen Armee war der Startschuß für die panische Flucht der christlichen Bevölkerung zur Küste. Wer von ihnen keinen Schiffsplatz ergatterte, kam in einer „Orgie von Metzeleien“ um, wurde von türkischen Soldaten erschossen oder erhängt, in Arbeitsbataillone gepreßt und deportiert.

Im allgemeinen Exodus der Christen aus Klein-asien endete ein zehnjähriger Krieg, der für Liakos wahrlich keiner von „Pygmäen“ war. Von den 1,5 Millionen Griechisch-Orthodoxen Kleinasiens überlebte ihn nur die Hälfte. Auf seiten der Muslime zählen türkische Statistiken 640.000 Tote und 840.000 Vertriebene. Füge man Schätzungen über die Armenier hinzu (800.000 bis eine Million Tote), darf man annehmen, daß zwei Millionen Menschen „durch des Schwertes Schärfe“, aber auch durch Seuchen und Hunger, aus diesen drei Gemeinschaften ihr Leben verloren, die zuvor seit Jahrhunderten zusammengelebt hatten. 


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